Autismus und die Theory of Mind

Guten Tag,

im letzten Beitrag habe ich darüber berichtet, dass Neurotypen teilweise hellseherische Fähigkeiten benötigen, wenn wir ihnen etwas erzählen und auch schon den Grund dafür genannt: die bei Autisten schwächer ausgeprägte Theory of Mind

Was ist das?

Was vom Begriff her total wissenschaftlich und kompliziert klingt, ist eigentlich ganz einfach erklärt. Im Prinzip ist es nichts anderes, als sich in seine Mitmenschen hineinversetzen zu können. Es bedeutet, dass wir erspüren können, wie sich andere Menschen fühlen und ahnen können, was sie gleich tun werden und warum sie sich so verhalten, wie sie sich verhalten. Gleichzeitig bedeutet es aber auch, dass uns klar ist, dass unser Gegenüber nicht explizit dieselben Informationen hat, die wir haben. 

Die Fähigkeit sich in andere Menschen hineinzuversetzen entwickelt sich bei neurotypischen Kindern bereits in den ersten drei Lebensjahren.  Ein klassisches Experiment, dass diese Fähigkeit bei Kindern prüft, sind False-Belief-Aufgaben. Kind und Versuchsperson 1 und Versuchsperson 2 sind in einem Raum. Versuchsperson 1 legt das Spielzeugauto vor den Augen des Kindes und der Versuchsperson 2 in eine grüne Kiste. Anschließend verlässt Versuchsperson 2 den Raum und der VP1 legt das Auto nun in die blaue Kiste. Das Kind soll nun sagen, wo VP2 nach dem Auto suchen wird. Ab einem Alter von 3,5 - 4 Jahren wissen neurotypische Kinder, dass VP2, die nicht erlebt hat, dass das Auto seinen Standort gewechselt hat, das Auto höchstwahrscheinlich in der grünen Kiste suchen wird. Jüngere und höchstwahrscheinlich auch autistische Kinder verstehen nicht, dass VP2 entscheidende Informationen fehlen und gehen automatisch davon aus, dass ihr Wissen (das Auto ist in der blauen Kiste) auch automatisch die andere Person hat.

Ich persönlich bin darin nicht besonders gut. Wenn ich von jemand nach Hause gefahren werde, vergesse ich oft, dass ich ansagen muss wo die andere Person z. B. abbiegen muss. - Ich weiß ja wo ich wohne und wie man da hin kommt! Natürlich ist mir beim darüber nachdenken klar, dass das mein Gegenüber nicht zwingend wissen muss, wenn er nicht gerade zufällig mein Angehöriger ist, aber meist muss mein Gegenüber mich daran erinnern, dass ich ihm Anweisungen geben muss. 

Die Theory of Mind in Gesprächen

Und das ist das Problem, weswegen Neurotypen teilweise irritiert sind und uns nicht folgen können, wenn wir autistische Personen ihnen etwas erzählen. Wir lassen Erklärungen weg, die unser Gegenüber für sein Verständnis dringend brauchen würde, weil wir vergessen, dass der Gesprächspartner wenn er nicht in der Situation dabei war, nicht dasselbe weiß wie wir. Ich ärgere mich meistens darüber, wenn mich mein Gesprächspartner nicht versteht, weil aus meiner Perspektive alles logisch ist und ich meines Erachtens alle notwendigen Informationen übermittelt habe. Leider vergesse ich immer wieder, dass ich mein Gegenüber "abholen" muss und ihn auf denselben Informationsstand bringen muss, bzw. mindestens vorher ankündigen muss, wie ich gerade auf das Thema komme, damit er sich auf den Gesprächsinhalt einstellen kann. Eben genau weil sie in unseren Gedanken ja nicht sehen können, worüber wir nachgedacht haben...

Die Theory of Mind in der Erziehung

Ein klassischer Satz, den Erzieher oder Eltern im Streit von Kindern immer wieder sagen, wenn sie Kindern vermitteln wollen, dass ihr Verhalten unangemessen ist: "Wie wäre das denn für dich, wenn das der Tom mit dir machen würde?!" Ich kann jetzt schon voraussagen, dass dieser Satz vielleicht bei neurotypischen Kindern ab einem gewissen Alter zum Erfolg führt, bei vielen autistischen Kindern ist der Satz komplett sinnlos. Angenommen Tom wird von Laura gekniffen und die Erzieherin stellt Laura diese Frage. Sie möchte natürlich darauf hinaus, dass Laura versteht, dass es Tom weh tut, wenn er gekniffen wird, sie das selbst nicht wollen würde und darum das Verhalten abstellt. Es wird vorausgesetzt, das sie sich in Tom hineinversetzen kann. Nun gehen wir aber mal davon aus, dass Laura ein autistisches Kind ist. Wenn sie Tom kneift, fühlt sie Haut zwischen ihren Fingern - sie kann nicht verstehen, dass er nicht dasselbe spürt wie sie, sondern dass es ihm weh tut. Darum wird sie auch nicht nachvollziehen können, warum das Verhalten unangemessen ist - das Gefühl von Haut zwischen den Fingern ist ja per se nichts schlimmes, warum genau sollte sie das also lassen?

Sinnvoller wäre, wenn die Erzieherin ihr erklären würde: "Der Tom weint. Wenn du ihn kneifst, spürst du seine Haut, für Tom ist es aber sehr schmerzhaft, weil du seinen Arm zusammendrückst. Ich möchte nicht, dass du ihm weh tust, bitte kneif ihn nicht." Die Chance, dass Laura das unerwünschte Verhalten abstellt, ist so signifikant höher.

Warum fällt es Autisten so schwer, sich in andere Menschen hineinzuversetzen?

Neurotypische Menschen nutzen hauptsächlich Gestik und Mimik ihres Gegenübers um herauszufinden, wie er sich fühlt. Bzw. greifen sie auf gemachte Erfahrungen zurück um z. B. zu erkennen, ob derjenige das Gesagte gerade ironisch meint oder ernst. Wenn es zum Beispiel regnet und der Gesprächspartner meint: "So ein cooles Wetter!" wenn zwei Personen gerade auf einen Zooausflug gehen wollen, wird die neurotypische Person recht schnell kapieren, dass Regen für den Zoo ungünstig ist und die andere Person das nicht ernst meint, es aber sagt, weil sie die Situation mit Humor nehmen will. Der Autist wird verwirrt sein, weil ihn der Regen gerade stört und er eben nicht versteht, warum ihr Gesprächspartner gerade das komplette Gegenteil sagt. Tja und Gestik und Mimik gibt ihnen eben leider auch nicht die notwendigen Informationen, die sie brauchen um sich in ihr Gegenüber hineinzuversetzen. Während Neurotypen diese Informationen alle nebenbei einsammeln, weil sie sie intuitiv verstehen, müssen Menschen im Autismus-Spektrum jedes einzelne Detail einzeln abprüfen und dann schauen, ob sie eine ähnliche Situation schon hatten, in denen alle gerade herausgefundenen Informationen schon mal genauso vorhanden waren. Das dauert natürlich wesentlich länger und ist unheimlich anstrengend. 

Liebe nichtautistische Menschen: wenn ihr euch also das nächste Mal wieder mit uns unterhaltet und uns gar nicht folgen könnt, erinnert uns doch gern mal daran, dass ihr noch Informationen benötigt. :-)

Habt einen angenehmen Tag!

Anne

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