Autismus und Zeitgefühl

Guten Tag,

na, seid ihr eher Team "Ich komm 5 min später!" oder Team "Ich bin schon eine viertel Stunde vor der Zeit am Treffpunkt"? Ich persönlich bin eine Mischung aus beidem. Grundsätzlich würde ich lieber überpünktlich sein, tatsächlich fällt es mir aber unsagbar schwer. Das liegt daran, dass ich ein unsagbar schlechtes Zeitgefühl habe. Wenn man mich ohne irgendeine Zeitangabe irgendwo abstellt und mir sagt, lauf in 10 Minuten los, habe ich keinerlei Ansatz, wann ich tatsächlich starten muss. Ich habe mal mit meiner Freundin ein Experiment gemacht, wo sie die Zeit gestoppt hat, wie genau ich eine Minute treffe. Wenn ich die Sekunden mitzähle, lande ich ziemlich genau bei einer Minute, ist ganz klar. Wenn ich aber nicht mitgezählt habe, war das schon ganz anders... Und bei einer Dauer von 10 min die Sekunden mitzuzählen, finde ich recht unpraktikabel. Da kann man ja auch nichts anderes mehr machen. Ich weiß, dass es vielen anderen Autisten ähnlich geht. 

Wie äußern sich diese Schwierigkeiten konkret? 
  • Wie lange brauche ich für Strecke X - Y? Wann muss ich loslaufen, damit ich pünktlich bin?
  •  Wie viel Zeit ist vergangen seit X? (Ich frage meinen elektrischen Haushaltshelfer gefühlt aller 2 min nach der verbleibenden Zeit)
  • Schwierigkeiten, zu einer bestimmten Zeit fertig zu sein um das Haus zu verlassen

  • Aufgaben so organisieren, dass ich alle schaffe (ich schätze den Zeitbedarf der Aufgaben oft falsch ein und komme dann unter Zeitdruck)

  • flexibel auf Planänderungen zu reagieren (in der Berufsschulzeit konnte ich eine Zeit lang nicht länger schlafen, wenn eine Stunde ausgefallen ist, weil ich irgendwie nicht den Ablauf vom frühen morgen auf etwas später verlagern konnte - ich habe mich nämlich rein an der Uhrzeit orientiert)

Diese Probleme habe ich schon seit meiner Kindheit. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich am Wochenende mich immer früh telefonisch mit meiner Freundin kurzgeschlossen habe um mich mit ihr zu treffen und musste dann immer meine Mutti fragen, wann wir uns treffen können. (Ich wusste nicht, wie lange ich brauchen könnte um mich fertig zu machen.)

Was kann helfen?
  • Zeitverlängerung bei Tests/Prüfungen 
Das ist ein möglicher Nachteilsausgleich, der autistischen Schülern gewährt werden kann. Ich selber hatte bei normalen Klassenarbeiten/Tests keine Zeitverlängerungen oder andere Nachteilsausgleiche (außer in Sport). Weder in Berufsschule noch in der normalen Schule. Da war es nicht unbedingt erforderlich, weil ich auf jeweils Schulen für körperbehinderte Kinder/Jugendliche/junge Erwachsene war. Dort wurde die Arbeitszeit ohnehin so eingeteilt, dass es z. B. auch für motorisch eingeschränkte Kinder gut schaffbar war und ich war recht schnell im schreiben. In den Prüfungen habe ich aber immer Zeitverlängerung gehabt und habe diese auch benötigt. An der Stelle war das Risiko einfach zu groß, dass ich mich irgendwie verzettele.
  • gegenständliche Hilfsmittel, wie z. B. Time Timer
Ich fühle Zeit nicht. Um das mal zu beschreiben: ich weiß, dass 5 min kürzer sind als 10 min - aber sie fühlen sich immer anders an und ich habe keinerlei Idee was man in dem Zeitraum alles machen kann. Darum bringen mir normale Timer auf dem Handy oder auf meinem elektronischen Haushaltshelfer (ich möchte jetzt hier mal keine Namen nennen) rein gar nichts. Ich sehe, dass da noch 8 min stehen. Ja prima, aber mir sagt das nichts. Es ist eine Zahl, weiter nichts. Sie gibt mir keinerlei Informationen. Ich weiß, dass ich mich dann tendenziell ein bisschen beeilen sollte, aber wie gesagt - ich hab keine Ahnung, was ich in der Zeit noch tun könnte und wie stark ich mich beeilen muss. Mir hilft ein Time Timer. Das ist wie eine Art Eieruhr - Zeitumfang 60 min (gibt es auch mit 2 Stunden), die eine Farbscheibe eingebaut hat. Je mehr Zeit vergeht, desto kleiner wird die Scheibe. Sie zeigt mir das, was ich nicht fühle. Es ist besser nachvollziehbar, das nur noch wenig Zeit bleibt, wenn nur noch wenige Zentimeter Farbscheibe sichtbar sind, als wenn man nur eine Zahl hört. Leider sind die Time Timer recht preisintensiv - es gibt aber auch kostenlose Apps. Mit dem Time Timer ist die Chance, dass ich es pünktlich aus dem Haus schaffe, wesentlich höher als ohne.
  • Übersichtstabelle, wie lange für welche Aktivität gebraucht wird
Davon profitiere ich bis heute. Das Problem, dass ich in der Ausbildungszeit nie länger schlafen konnte, habe ich ja oben schon erwähnt. Bei der Heilpädagogik (eine der vielen Unterstützungsmöglichkeiten im BBW) wurde mir dann der Auftrag gegeben, ich möge für alles was ich früh tue, die Zeit stoppen und diese Ergebnisse aufschreiben. Anschließend haben wir zusammengerechnet, wie lange ich für alles zusammen brauche und so quasi ermittelt, wann ich aufstehen muss um rechtzeitig und ohne Stress in die Berufsschule zu kommen. Eigentlich ganz simpel - ich bin aber schlicht nicht auf die Idee gekommen. Diese Taktik habe ich beibehalten. Wann immer ich z. B. eine Strecke häufiger laufen möchte und es dabei nicht egal ist, wann ich ankomme, stoppe ich mehrfach die Zeit, während ich die Strecke laufe. Ich weiß jetzt zum Beispiel, dass ich definitiv pünktlich zur Bahn komme, wenn ich 12 min vorher loslaufe. Es ist in 10 Minuten zu schaffen, aber da muss wirklich alles glatt laufen und ich darf nicht trödeln. Eine Pünktlichkeits-Garantie gibt diese Methode aber auch nicht. Denn da ist leider nicht einkalkuliert, dass ich mich irgendwo festspiele und es nicht bemerke, weil ich ja nicht spüre wie viel Zeit vergangen ist. 
  • mehrere Wecker hintereinander stellen 
Auch mit Time Timer kann es passieren, dass man sich "verzettelt" - man schaut ja auch nicht ständig auf diesen Wecker - sonst würde man ja auch nicht vorankommen in dem was man tun muss. Hier kann es helfen, wenn man sich mehrere Wecker (z. B. auf dem Handy) stellt, die einem den Impuls geben: so, jetzt muss ich aber wirklich aus dem Bad raus oder zumindest schnellstmöglich. Das ist auch für Familien angenehmer - wenn es nach einer Anlaufphase dann so funktioniert, müssen sich die Eltern wesentlich seltener den Mund "fusselig" reden und der Sprössling fühlt sich nicht ständig kontrolliert/gestresst, weil er selbstständig handeln und sich organisieren kann. 

Fazit:

Viele Autisten mögen vielleicht nicht intuitiv spüren, wie viel Zeit vergangen ist oder wie sich eine Zeitspanne anfühlt - das ist aber überhaupt kein Beinbruch. Es gibt wirklich reichlich Hilfsmittel um diese Schwäche einfach und effektiv auszugleichen. Man muss nur kreativ damit umgehen.  

Habt einen schönen Tag.
Anne

Kommentare

  1. Liebe Anne,
    ganz herzlichen Dank für Deinen Blog, den ich neulich entdeckt habe! Bin Mutter eines autistischen Jugendlichen und finde Deine vielen unterschiedlichen Beiträge toll und immer wieder hilfreich.
    Wünsche Dir stets gute Ideen für neue Beiträge, weiter gutes Gelingen und hab auch Du einen schönen Tag!

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    1. Vielen vielen lieben Dank für das liebe Feedback. <3 Es freut mich riesig zu hören, dass der Blog für euch sinnvoll ist und nicht nur eine Art Tagebuch für mich ist. Das ist ja im Endeffekt mein Ziel. P.S. Ich nehme sehr gern Beitrags-Wünsche entgegen! Teilweise ist es ganz schön schwierig, sich zu entscheiden, über welches Thema ich dieses Mal schreiben möchte - es gibt sooo viele Möglichkeiten, weil das Themengebiet so riesig ist und ich möchte ja über etwas schreiben, dass euch interessiert! :-)

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