Autismus und Gefühle

Guten Tag,

auf den Beitrag heute bin ich gekommen, weil ich das Problem gerade ganz aktuell mal wieder verstärkt spüre. Menschen mit einer Autismus-Spektrums-Störung haben extreme Schwierigkeiten Gefühle zu erkennen, zu deuten und adäquat damit umzugehen. Sowohl die eigenen, als auch die von anderen Personen. Mindestens genauso schwierig ist es, die Mimik vom Gegenüber korrekt zu lesen, das sprengt aber den Rahmen, ich schreibe in einem der nächsten Beiträge darüber. 

Können AutistInnen fühlen?

Grundsätzlich: ja. Definitiv. Wir sind keine Robotermenschen und können genauso wie Nicht-Autisten auch Freude, Traurigkeit, Wut, Neid, Begeisterung, Angst, etc. empfinden. Und das sogar extrem intensiv. Das Problem liegt eher darin, zu erkennen, um welches Gefühl es sich handelt. Ich zum Beispiel spüre in der Regel nur "es geht mir gut" oder "es geht mir schlecht." Das zwar sehr zuverlässig, aber es gibt ja leider eine riesige Abstufung an positiven oder negativen Gefühlen - das zutreffende identifizieren ist kompliziert. Genauso bei meinem Gegenüber - ich nehme sogenannte Schwingungen wahr - ich spüre, dass die Person anders drauf ist als sonst und z. B. eher negativ gestimmt ist. Aber warum? Ist sie traurig? Ist sie sauer? Hatte sie gerade Streit? Noch schwieriger wird es, wenn ich den Stimmungsumschwung nicht mitbekommen habe, dann bin ich komplett verwirrt, warum die Person sich auf einmal so komisch verhält, vermeintlich grundlos. Manche AutistInnen können allerdings nicht mal die Schwingungen wahrnehmen, was teilweise dazu führt, dass sie entsprechend keine Rücksicht auf die andere Person nehmen kann und eventuell sehr taktlos ist und sein Gegenüber verletzt, obwohl er das eigentlich gar nicht vor hatte.

Welche besonderen Schwierigkeiten können daraus entstehen?

Ich verstoffwechsele Gefühle extrem stark über körperliche Reaktionen. Wenn ich irgendwie extrem traurig, wütend oder gestresst bin, habe ich oft extrem starkes Herzklopfen, ich habe das Gefühl von Bauchschmerzen, kann vielleicht nicht richtig schlafen, etc. Ich reagiere also psychosomatisch - mein Körper reagiert auf negative Gefühle mit Stress-Symptomen, die mich wiederum so stark irritieren (ich kann meistens sehr schlecht einordnen, dass es nur von der Psyche kommt), dass es mir dadurch zusätzlich noch mal schlechter geht. Ihr erkennt den Teufelskreis oder? 

Ein weiteres Problem ist, dass wir nicht adäquat auf unser Gefühlsleben reagieren können, wenn wir gar nicht kapieren was wir da gerade fühlen. Wir können also an der Stelle nicht gut für uns sorgen. Neurotypen erkennen meistens: "Okay, ich bin gerade traurig, also versuche ich zu weinen, damit die negativen Gefühle weniger werden, oder ich lasse mich von einem Freund trösten." Oder sie merken, dass sie vor einer bestimmten Situation Angst haben und können entsprechend darauf reagieren. Auf die verschiedenen negativen Emotionen gibt es unterschiedliche Dinge, die man tun muss, damit es einem wieder besser geht. Wenn man nun aber, wie viele Autisten, nur spürt, dass es einem nicht gut geht, fischt man quasi im Trüben und kann nur wie bei einer Checkliste nacheinander alles durchgehen, was helfen könnte. Wenn es aber nicht zufällig das passende ist, kann es schon ziemlich lange dauern, bis es einem dann wieder besser geht.

Zumindest bei mir ist es so, dass wenn ich Emotionen wahrnehme, diese gleich dreimal so heftig sind wie die von Neurotypen. Woran das liegt weiß ich nicht. Eine Theorie wäre, dass es eine Art Fass gibt, in die die Gefühle reinfließen. Neurotypen leeren dieses Fass in regelmäßigen Abständen immer mal ein bisschen aus, weil sie Dinge tun, die ihren Stress mindern oder die dafür sorgen, dass es ihnen besser geht. Autisten füllen das Fass so lange, bis es irgendwann kracht - und dann fliegt ihnen der komplette Inhalt dieses Fasses um die Ohren. Weil so viel von den Gefühlen schon im Fass drin war, ist es dann natürlich viel heftiger. 

Was kann helfen?

Ich habe durch meine Psychologin eine gute Methode kennengelernt, Emotionen zu erkennen. Ich bin synästhetisch veranlagt, das heißt - ich nehme Gefühle über Formen und Farben wahr. In besonderen Fällen schmecke ich das Ganze auch noch. Wut ist z. B. knallrot und meistens ein Dreieck, Menschen die mir nicht geheuer sind, erhalten einen stahlgrauen Stern, die Musik von Milow ist himmelblau und schmeckt wunderbar nach Karamell - sie sorgt für Entspannung. Eine Fahrt mit meiner Lieblingsstraßenbahn sorgt dafür, dass ich lindgrün sehe und eine Art Kuchen schmecke, Geschmacksrichtung zitronig, mandarinenartig. Ich habe eine Weile Situationen notiert, wann die Farben/Formen auftreten und dann haben wir gemeinsam besprochen, was hilft, wenn ich eine bestimmte Farbe erkenne. Wenn ich zum Beispiel extrem wütend bin, höre ich meine rosa Playlist, denn die sorgt dafür, dass dem knalligen Rot gefühlt etwas weiß beigemischt wird, es also nicht mehr so heftig ist. Wir haben den Farben nicht grundsätzlich eine Emotion zugeordnet, sondern tatsächlich eher eine Sammlung gemacht, was in diesen Situationen zu tun ist. Es hilft mir zum Beispiel auch immer, die Formen/Farben aufzumalen. Auch wenn ich nicht weiß, was sie bedeuten - mein Gehirn kennt die Bedeutung sehr wohl irgendwie innerlich und verarbeitet sie beim malen. 

Was mir auch extrem gut hilft: es gibt Übersichtskarten, wo dargestellt wird, an welchen Stellen im Körper welche Emotionen wahrgenommen werden können. Traurigkeit spürt man zum Beispiel in den Oberschenkeln, im Unterbauch und in der Mitte vom Körper - also in der Herzgegend. Das war ein ultrakrasser Wow-Moment neulich. Ich hatte bei meiner Psychologin schon mal diese Übersichtskarte gesehen, also habe ich ihr neulich das körperliche Gefühl der Trauer (zu dem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass es Traurigkeit bedeutet) beschrieben und sie gebeten, mir mal die Karte einzuscannen und per Mail zukommen zu lassen. Es war so heftig auf die Karte zu schauen und dann zu merken: hey wow - exakt dort wo ich es gefühlt habe, spürt man Traurigkeit! Ich könnte mir vorstellen, dass das auch vielen anderen Autisten helfen könnte.




Es ist leider auf Englisch, aber man kann es ja gut bei Google Übersetzer herausfinden, wenn man der Sprache nicht ohnehin mächtig ist. Die Grundemotionen: Anger = Wut, Fear = Angst, Sadness = Traurigkeit, Happyness - Fröhlichkeit/Begeisterung. 

Außerdem hilft das klassische Tagebuch schreiben oder mit Freunden reden sehr gut. Noch hilfreicher ist es, wenn neurotypische Freunde einem sagen können, welche Gefühle man gerade in sich trägt. Dann ist zumindest das große Fragezeichen weg, was die Empfindungen teilweise wirklich bedeutend schlimmer macht. Es gibt nichts anstrengenderes, als keine Ahnung zu haben, was man gerade empfindet. 

Wenn man sich gerade akut einfach nur beruhigen möchte, hilft es natürlich am allerbesten, wenn man einer Beschäftigung nachgeht, bei denen die Emotionen komplett im Hintergrund sind. Ich lerne zum Beispiel gerade die Programmiersprache Java. Das programmieren hilft mir teilweise extrem, weil es dabei nur 2 Emotionen gibt - Freude (das Programm tut was es soll) oder Frust (das Programm macht nicht was es soll) und ansonsten ist es vollkommen logisch - nur Zahlen und Buchstaben sowie Programmiercodes. Wenn man im Ansatz verstanden hat, welche Codes man gerade eingibt, ist extrem vorhersehbar was passieren wird, wenn man X, Y oder Z eingibt, ergo beruhigt es irgendwie. Es gibt garantiert noch ganz viele andere Aktivitäten, die man machen kann, z. B. sich mit seinem Spezialinteresse zu beschäftigen. Wenn Kleinmesse war (also vor dem Lockdown) und es ging mir nicht so gut, bin ich dort meistens hingefahren und habe mich einfach nur für mehrere Runden dem Geschwindigkeits- und Fahrgefühl des Fahrgeschäftes hingegeben. Es gibt nichts entspannenderes, als sich bei einem irren Tempo die ganze Zeit im Kreis umherfahren zu lassen. (Vorausgesetzt man hat einen festen Magen. :D)

Was wären bessere Fragen als "Wie geht es dir?"

Das ist die letzte Frage für heute. Neurotypen neigen dazu, sich einander zu fragen, wie es ihnen geht. Ich verstehe das Konzept dahinter, es soll ausdrücken "Ich interessiere mich dafür, wie es dir geht." Der Haken ist aber, dass wir meistens nicht darauf antworten können (uns werden diese Fragen mind. genauso häufig gestellt wie Neurotypen). Effektiv werdet ihr auf diese Frage immer ein freundliches "Keine Ahnung" (oder zumindest etwas in der Art) zur Antwort bekommen. Warum das so ist, haben wir ja schon oben geklärt. Aber was könnt ihr uns stattdessen fragen, wenn ihr wissen wollt, wie unser Empfinden ist? Der Schlüssel sind konkretere Fragen!
  • Was hat dir heute besonders gut gefallen, worüber hast du dich geärgert?
  • Hast du etwas, worüber du mit mir sprechen möchtest?
  • Gibt es gerade Probleme in der Schule/am Arbeitsplatz?
  • ...
Aus unseren Antworten könnt ihr dann höchstwahrscheinlich recht gut ablesen, wie es uns geht. Zumindest ist die Chance, dass ihr etwas über unser Empfinden erfahrt wesentlich größer, als wenn ihr uns diese Standartfloskel stellt. (Da wissen wir ohnehin nicht so richtig, was dahinter steckt und was euch davon wirklich interessiert und was eher nicht.)

Habt einen schönen Tag!
Anne



Quelle Bild Gefühle: https://sciencev2.orf.at/stories/1730946/index.html


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