Sind wir nicht alle ein bisschen autistisch?

Guten Tag, 

willkommen zurück! Zum Einstieg gleich mal eine Frage an die Leser im Autismus-Spektrum: na, wie oft habt ihr diesen Satz schon gehört? Ich möchte nicht spoilern, aber ich würde behaupten, dass mindestens 70 % aller Menschen mit einer Autismus-Spektrums-Störung diesen Satz schon gehört haben oder zu einem späteren Zeitpunkt noch hören werden. Ich habe das Glück, dass mir noch niemand diesen Spruch an den Kopf geworfen hat, habe diesen Satz aber trotzdem schon mehr als einmal gehört. Er kommt häufig von neurotypischen Menschen, denen man von seiner Diagnose erzählt. Und soll ich was sagen: ich mag ihn absolut nicht, weil das ein unglaublich deutliches Zeichen dafür ist, dass sich die meisten Menschen nachwievor nicht mit diesem Störungsbild auskennen oder es unterschätzen. 

Was soll der Satz aussagen?

Ich gehe mal davon aus, dass die meisten, die uns diesen Satz entgegnen, es gar nicht böse meinen. Sie wissen es nur nicht besser. Er soll vermutlich ausdrücken, dass "ja alle ihre kleinen Macken haben" und es für sie nicht schlimm ist, dass das Gegenüber dieses Störungsbild hat. Außerdem kann es sein, dass sie einige Symptome vom Autismus kennen und erkennen: ach - ich mag ja zum Beispiel auch keine Menschenmassen." Die meisten neurotypischen Menschen haben verständlicherweise keine wirkliche Ahnung von dem Störungsbild und kennen nur die klassischen Symptome. Und wenn sie die dann in sich wiedererkennen, dann denken sie nicht weiter darüber nach und sagen eben "Sind wir nicht alle ein bisschen autistisch?

Was ist die Antwort auf diese Frage?

Diese Frage ist mit einem klaren NEIN zu beantworten. Es gibt kein "Ich habe ein bisschen Autismus." Autismus ist keine Art wie man sich verhalten kann, sondern ein Störungsbild, dass nach festgelegten Kriterien diagnostiziert wird und sogar einen ICD10-Code hat (F 84.5 ist zum Beispiel das Asperger-Syndrom). Um eine Autismus-Diagnose zu erhalten muss man:

  • qualitative Beeinträchtigungen in der gemeinsamen Interaktion
  • Probleme in der Kommunikation mit anderen Menschen
  • eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire  an Interessen und Aktivitäten
aufweisen. Es handelt sich bei Autismus um eine Entwicklungsstörung, die seit der frühen Kindheit besteht und bis zum Lebensende erhalten bleibt. 

Einzelne Symptome bedeuten noch lange nicht, dass man autistisch ist!

Ich kann verstehen, warum Menschen auf diesen Gedankenansatz kommen. Um das zu erklären, verwende ich mal das Symbol eines Puzzles. Die Symptome die ein Autist haben kann (z. B. Probleme mit vielen Menschen, Schwierigkeiten mit zu großer Lautstärke, etc.) können selbstverständlich auch neurotypische Menschen haben. Klar kann es sein, dass auch Menschen ohne Autismus sich nicht gerne in großen Menschenmengen aufhalten und darum zum Beispiel Festivals meiden. Selbstverständlich gibt es auch neurotypische Menschen die keine Ahnung haben, worüber sie sich unterhalten sollen auf Familienfeiern, etc. ALLE Symptome, die Autisten haben können in abgeschwächter Form auch bei nicht-autistischen Menschen auftreten. ABER: um eine solche Diagnose zu erhalten, reicht es nicht, das ein Symptom zutrifft, sondern es müssen aus allen 3 Teilbereichen mehrere und vor allem größere Auffälligkeiten vorhanden sein. Die einzelnen Symptome sind Puzzleteile dieser Diagnose, aber auch wenn die nicht-autistischen Menschen zum Beispiel Puzzleteile haben wo ein Stück Bach und ein Baum abgebildet sind, wissen sie immer noch nicht, wie das fertige Puzzle aussieht. Nur der Autist, der wirklich alle Symptome hat die auf eine Autismus-Spektrums-Störung zutreffen, kann sehen, dass es sich um ein Wald handelt. Er hat alle Puzzleteile. 

Warum mögen viele Autisten diesen Satz nicht?

Er sorgt dafür, dass dieses Störungsbild runtergespielt wird und so getan wird, als wäre das alles nicht so schlimm. Ja, man kann mit der Autismus-Spektrums-Störung sehr gut leben, die Gesamtheit der einzelnen Symptome führt aber leider oft dazu, dass wir wirklich viele Schwierigkeiten im Alltag erleben. Viele Autisten leiden unter Reizüberflutungen und sitzen im Alltag ständig irgendwelchen Missverständnissen auf, weil sie das Verhalten ihrer nicht-autistischen Mitmenschen nicht richtig interpretieren können oder Probleme mit der bildhaften Sprache haben, die in der neurotypischen Welt häufig angewendet wird. Und das sind nur einige wenige Beispiele, die uns in unserem Leben begegnen. Ich kann zum Beispiel auch nicht alleine auf ein Fest oder ein Konzert gehen - ich brauche immer jemanden, der mich begleitet. Alleine würde ich es keine zehn Minuten aushalten. Nur weil wir nicht mit unseren Problemen hausieren gehen, heißt das noch lange nicht, dass wir uns problemlos an die neurotypische Welt anpassen können! Das ist im Gegenteil sogar, nämlich hundeanstrengend zum Teil. 

Was kann man stattdessen sagen, wenn man Verständnis zeigen möchte?

Der Satz wird ja häufig auch deswegen gesagt, weil man dem Autisten zeigen möchte: ich kann dich verstehen, ich habe bestimmte Probleme auch. Man könnte aber z. B. in solchen Fällen sagen: 

  • "Ich kann deine Probleme mit Small-Talk gut verstehen, ich weiß auch immer nicht was ich erzählen soll." 
  • "Ich bin auch immer gestresst, wenn es im Supermarkt so laut ist. Was machst du, um das besser auszuhalten? Ich höre immer Musik!"
  • ...
Es ist überhaupt nicht schlimm zu entgegnen, dass man manche Dinge von sich selber auch kennt. Das wird auch dem Autisten einleuchten, der euch gerade von seiner Diagnose erzählt hat. Aber das kann man, wie in den oben genannten Beispielen, auch vermitteln ohne zu behaupten, dass man dasselbe hat. Denn seid mal ehrlich - so viele unterschiedliche Baustellen in diesen drei Bereichen, die diese Diagnose ausmachen, habt ihr dann doch nicht oder? 😉 

Habt einen schönen Tag!
Anne

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