Ordnung und Autismus - Warum viele Autisten chaotischer sind, als man denkt...

Guten Tag!

Liebe Eltern eines autistischen Kindes, bzw. nichtautistischer Partner eines Autisten - kennt ihr solche Bilder aus den Kinderzimmern eurer Kids bzw. aus der Wohnung eures Partners? 


Ja? Also von neurotypischen Kindern ist man das ja gewohnt, aber autistische Kinder? Autisten lieben doch Ordnung und sind super pedantisch?! Immerhin rückt unser Sohn immer die Gießkanne auf der Fensterbank gerade und kriegt die Krise wenn wir in der Wohnung umgeräumt haben,  das kann doch nicht sein, oder? Doch. 😅😅 Liebe Eltern nicht-autistischer Kinder: ihr seid nicht alleine, dieses Phänomen kennen auch die Eltern mit autistischen Kindern. Denn man muss die Dinge ganz klar trennen. 

Ja, viele Autisten haben einen sehr guten geschulten Blick für Details und können es nicht gut haben, wenn irgendetwas nicht dort ist, wo es hingehört. Ich kenne das zum Beispiel von mir selbst: im Restaurant muss ich die Platzdeckchen immer wieder gerade rücken, wenn sie sich verschoben haben, weil man ja automatisch drauf lehnt und sie ein bisschen verrutscht. Das tue ich auch mit den Deckchen von meinem Tischnachbarn, sonst kann ich mich nicht entspannen. In Ermangelung einer Mitarbeiterin am Empfang wurde bei meiner Psychologin mal mit einer Art Chip-System gearbeitet. Jeder der reingekommen ist, hat einen rosa Einkaufschip erhalten und hat sich erst mal hingesetzt. Dann wurde Stück für Stück alles bearbeitet, wenn die Chips alle wieder da waren, waren alle versorgt. Die Chips wurden auf einem laminierten Stück Papier abgelegt und wie immer wenn es schnell gehen muss, lagen sie selbstverständlich nicht hundertprozentig in den Kreisen. Was war das erste was ich gemacht habe, als ich reingekommen bin und das gesehen habe? Ich musste die Chips ganz ordentlich in die Kreise reinlegen. Mittig. Meine Wohnung ist aber chaotisch. Wie passt das bitte zusammen?                                                                    
Nun, der Haken an der Sache ist folgender Punkt: gewisse Dinge haben ihren festen Platz, z. B. muss das Sofa dort stehen, wo es immer steht - alles andere entspricht nicht dem gewohnten Bild unseres inneren Auges und sorgt für Irritationen. Und auch bei den Platzdeckchen oder den Chips kann man sich hervorragend an äußeren Rahmen orientieren. Der ist vorgegeben, z. B. durch die aufgedruckten Kreise oder die Tischkante. Es ist also hervorragend möglich, sie auszurichten. Und das ist dann auch eine Wohltat für unser inneres Auge. Und wir räumen auch z. B. einen Dekoartikel konsequent wieder dort hin, wo er war, wenn es jemand gewagt hat, ihn umzustellen. In dem Sinne mögen wir schon Ordnung, zumindest wollen wir, dass alles dem gewohnten Bild entspricht. Der große Unterschied zum aufräumen: bei den Dekoartikeln/Möbeln haben wir ein klares Bild im Kopf - dort steht es IMMER. Es ist nichts, worüber wir nachdenken müssen, weil es eben schon immer so war. Das Problem beim aufräumen ist, dass wir zunächst erst einmal eine (für uns) sinnvolle Ordnung und Struktur finden müssen, bis wir überhaupt sinnvoll aufräumen können. 

Ein Beispiel: getragene Sachen, die man noch mal anziehen kann, kommen auf den Stuhl, damit sie für den nächsten Tag noch mal griffbereit sind. An dem Punkt würden sicher auch viele Neurotypen noch mitgehen. Dann geht die Frage aber schon los: wie viele Klamotten kann ich auf dem Stuhl ablagern, bevor es anfängt unordentlich zu werden? Und wie lange kann man diese Sachen auf dem Stuhl lagern - ab wann macht es keinen Sinn mehr sie dort hinzulegen, sondern stattdessen zu waschen? Welche Kriterien eignen sich, um das zu entscheiden? Wie oft sollte man eine Waschmaschine starten? All diese Fragen, beantwortet sich der Neurotyp meistens so nebenbei. Auch Autisten beschäftigen sich meistens nicht bewusst mit diesen Fragen, aber dadurch, dass sie nicht hundertprozentig zu beantworten gehen, entscheidet er sich dann eben doch meistens fürs nichts tun. Dann stapeln sich die Klamotten halt. Erspart viel Entscheidungsarbeit. Bis irgendwann dann der Punkt kommt, wo es entweder den Autisten selbst oder einen Partner/Angehörigen stört und die Sachen dann doch alle in der Waschmaschine landen. Bis dahin ist es dann aber mit einer hohen Wahrscheinlichkeit nicht besonders ästhetisch anzusehen. 

Ein ganz großes Problem ist auch, wenn die Dinge keinen hundertprozentigen Platz haben. Ein Beispiel: ich habe zum Beispiel ein Kerzenfach und eine Nagellack-Box. Neuer Nagellack wandert nach der Benutzung in die Nagellackbox und eine neue Kerze nach dem IKEA-Einkauf ins Kerzenfach. Alles kein Thema. Wenn ich aber nicht hundertprozentig weiß, wo die Sache hinkommt, weil es an mehrere Stellen passt, wird es schwierig. Wenn ich mir zum Beispiel ein Lederarmband kaufe, das ich immer mal tragen möchte, macht es keinen Sinn, es in die Schmuckkiste zu machen. Wo landet es also? Dort wo ich es gerade abschmeiße, meistens witzigerweise in meinem Bett. Dort hab ich es abgemacht, es hat keinen festen Platz, also ist es dort halt. Oder wenn ich versuche meinen Schreibtisch aufzuräumen: da liegen dann viele Zettel rum und ich muss nun entscheiden: brauch ich den noch? Wenn ja, muss er abgeheftet werden? Wenn ja - in welchem Ordner und unter welcher Rubrik? Oder ich entdecke zufällig noch etwas anderes was mich interessiert und spiele mich dann damit fest. Denn leider konzentriere ich mich dann nicht ausschließlich auf das wegräumen von Zetteln, sondern sehe nur das große Chaos auf dem Tisch und sehe dann den Stift. Ich teste also ob er noch schreibt. Ah - er schreibt noch, gut. Dann ab damit in die Schublade. - Oooh, mit dem Stift habe ich aber lange nicht geschrieben. Muss doch gleich mal probieren, ob der noch funktioniert... Ich denke ihr versteht das System. 🙆

Zudem sind wir unglaublich schnell ablenkbar. Ich bin fertig mit Abendbrot essen und habe eigentlich vor, nun den Herd zu putzen. Dabei fällt mir ein, dass ich ja unbedingt noch die Folge "Perfektes Dinner" aufnehmen möchte. Gehe also in die Stube und programmiere den Receiver. Dann erinnere ich mich, dass ich ja gerade noch meiner Freundin schreiben wollte. Da bemerke ich, dass da gerade eine Benachrichtigung von Facebook auf mich wartet... Das Herd abwischen ist schon lange wieder vergessen... 

Was mir auch meistens zum Verhängnis wird, ist der Gedanke: möchte ich den Gegenstand in der nächsten Zeit schnell greifbar haben. Wenn ich mich für ja entscheide, bleibt der Gegenstand genau dort, wo ich ihn zuletzt benutzt habe. Dann kommt aber wieder das Problem zum tragen, dass ich auch mit den Klamotten auf dem Stuhl habe - wann ist der Zeitpunkt gekommen, wo ich es eh nicht mehr verwende in der nächsten Zeit und dann wegräumen sollte? Den verpasse ich in der Regel. Ein Stuhl mit Klamottenstapel macht die Wohnung noch nicht chaotisch. Wenn aber auch noch das Armband, der neue Nagellack auf dem Tisch, der Teller den man gut noch für das Abendbrot verwenden könnte oder das Buch was ganz gut ist, auch noch an Ort und Stelle verbleiben, verliert man irgendwann ganz fix den Überblick und fängt dann wieder mit dem großen Überlegen an. So entsteht dann ganz leicht Chaos, ohne dass wir es wirklich wollen. Und ein kleines bisschen Faulheit spielt natürlich auch noch mit rein, wenn man mal ehrlich ist. 😉

Wie kann man Autisten nun also dabei helfen, dass das Chaos gar nicht erst entsteht?

  • Sinnvolle Dauer für Verbleib von Gegenständen/Sachen bis zum wegräumen ganz klar festlegen.
  • Beim aufräumen für den Autisten festlegen, welche Aufgabe als nächstes dran kommt, das verhindert das klassische "festspielen".
  • Listen von den Tätigkeiten die immer zu erledigen sind, in die jeweiligen Räume hängen. Wenn alles abgehakt ist, geht es in den nächsten Raum. So findet man auch leichter den Faden wieder, wenn man gerade abgelenkt war. 
  • Es kann auch helfen zusätzlich Fotos vom Soll-Zustand zu machen. Schwerer autistische Menschen müssen dann nur noch den Ist-Zustand so verändern, dass es so aussieht wie auf dem Foto. 

  • Schrankteile mit Etiketten so beschriften, dass sofort klar drauf steht, was reingehört.
Am aller-wichtigsten ist es, dass man Zeit mitbringt, wenn man den Autisten dazu anleiten möchte, aufzuräumen. Denn die Ordnung die man erschaffen hat, kann nur dann eingehalten werden, wenn dem Autist dieses System auch sinnvoll erscheint. Sonst weiß er beim nächsten Mal wieder nicht, wo er den Gegenstand hin räumen soll... 

Habt einen schönen Tag und fröhliches Aufräumen! :-)
Anne

Quelle Bild: https://www.t-online.de/leben/familie/id_83099776/kolumne-verwuestung-als-normalzustand.html

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