Können Autisten auf einer Regelschule lernen?

Hallo!

Kaum ist die Kindergartenzeit vorbei, steht schon wieder die nächste große Frage an: wo soll das Kind eingeschult werden? Kann mein Kind vielleicht am besten lernen, wenn es nach der Montessori-Pädagogik unterrichtet wird? Aber die Schule ist doch so weit weg - bei der normalen Schule wäre der Schulweg viel kürzer. Eine spannende Phase. Bei Eltern mit Kindern die eine körperliche oder geistige bzw. seelische Behinderung (wie z. B. Autismus) kommt noch eine ganz andere Frage dazu: Förderschule oder Regelschule? Können autistische Schüler denn überhaupt an einer Regelschule lernen?

Grundsätzlich: ja. Es wäre falsch, nur aufgrund der Diagnose Autismus die Möglichkeit überhaupt nicht in Betracht zu ziehen. Das ist die simple Theorie. In der Praxis muss man natürlich sehr genau schauen, welche Bedürfnisse das Kind hat, welche Stärken und Schwächen es hat und muss einschätzen können, ob es den Herausforderungen gewachsen ist, oder lieber in einem geschützteren Umfeld lernen sollte. Der Unterricht an einer Regelschule kann für ein autistisches Kind definitiv Vorteile bringen, es kann aber auch sehr anstrengend sein und wenn es sehr schlecht läuft, überhaupt nicht funktionieren. Ich habe selbst kein Kind, kann aber von mir sagen, dass ich auf einer Regelschule nicht klar gekommen wäre. Nicht mal unbedingt wegen dem Unterrichtsstoff - ich war zwar auf einer Förderschule für körperbehinderte Schüler, wurde aber nach ganz normalem Realschul-Lehrplan unterrichtet. Trotzdem wäre ich überfordert gewesen, wenn ich mich mit einem Haufen neurotypischer Mitschüler jeden Tag hätte auseinandersetzen müssen. Man muss natürlich bei jedem Kind individuell schauen, aber ich kann Anhaltspunkte liefern, die man bedenken sollte, wenn man über eine Einschulung an der Regelschule nachdenken möchte. 

Vorteile einer Regelschule:
  • Nichtbehinderte Kinder können durch so einen gemeinsamen Unterricht entdecken, dass es vollkommen in Ordnung ist, wenn manche Kinder anders ticken als sie. (Inklusion ist hier das Stichwort!!)

  • Das autistische Kind erlebt die Verhaltensweisen seiner neurotypischen Mitschüler(innen). Wenn die Lehrer(innen) helfen, diese richtig zu interpretieren, können sie ggf. etwas über ihre nichtautistische Umwelt lernen. 

  • Es besteht die Möglichkeit, dass die Kinder selbstständiger werden. In einer Regelschule können sich die Lehrer nicht so intensiv um jedes einzelne Kind kümmern, sie müssen also automatisch lernen, sich gewisse Dinge selbst anzueignen. 

  • Die Autisten sind möglicherweise weniger überfordert wenn sie später in die Ausbildung gehen, weil sie die größeren Lerngruppen bereits gewöhnt sind. 

Nachteile von Unterrichtung an einer Regelschule:
  • An Regelschulen sind die Klassen wesentlich größer. 
Viele Autisten haben Probleme wenn zu viele Menschen auf engstem Raum zusammen sind. Das liegt unter anderem an der entsprechenden Geräuschkulisse. Selbst wenn alle Kinder Rücksicht nehmen und nicht rumschreien, etc. machen sie eben doch Geräusche. Und wenn von vielen Kindern viele kleine Geräusche kommen, kommt bei dem autistischen Schüler ein einziger Geräuschebrei an, dem er nicht entfliehen kann. Es besteht das große Risiko der Reizüberflutung. 

Außerdem können sich die Lehrer nicht so intensiv um das autistische Kind kümmern, wie es vielleicht notwendig wäre. Bei manchen Schülern im Autismus-Spektrum ist es zum Beispiel notwendig, bestimmte Aufgabenstellungen noch mal zu erläutern. Oder das Kind driftet vielleicht gedanklich öfter ab, weil es aufgrund seiner Reizoffenheit viel mehr wahrnimmt als seine neurotypischen Klassenkameraden, darum ablenkbarer ist und öfter ein bisschen Ansprache des Lehrers braucht, um wieder zur Aufgabe zurückzufinden. Es können Kleinigkeiten sein, aber je nach Klassenstärke kann sich die Lehrkraft logischerweise nicht so intensiv mit den einzelnen Schülern beschäftigen, weil die hintere Reihe gerade dann anfängt Blödsinn zu machen. In einer Förderschule sind die Klassen deutlich kleiner. 
  • Es können viele Missverständnisse entstehen. 
Viele neurotypische Kinder sind es nicht gewöhnt, dass manche Kinder anders ticken als sie und vielleicht auch eine vollkommen andere Wahrnehmung auf die Welt haben. Umgedreht ist es aber natürlich genauso. Es ist gerade am Anfang und auch später dann immer wieder viel Aufklärungs- und "Übersetzungs"-Arbeit der Lehrkräfte notwendig, um sicherzustellen, dass das Kind im Autismus-Spektrum gut in die Klasse integriert ist. Es handelt sich dabei wie um zwei verschiedene Sprachen - wenn ein Mitbürger aus China nach Spanien kommt und keine Hilfe in Bezug auf Übersetzung (hier die Aufklärung darüber, warum sich Autist/Nichtautist so "komisch" verhält) erhält, wird er sich dort nie wirklich eingewöhnen. 
  • Die Lehrer sind nicht für den Umgang mit Autisten geschult. 
Auch wenn die Lehrer sich sicher viel Mühe geben, so haben die meisten Lehrkräfte an einer Regelschule keine spezielle Ausbildung für den Umgang mit Schülern die eine Einschränkung haben. Sie wissen zum Beispiel nicht, welche spezielle Förderung der autistische Schüler braucht, um sich weiterentwickeln zu können, bzw. was verändert, angepasst werden muss, damit er gewisse Aufgaben eben doch schaffen kann. Es kann außerdem, wie mit den Mitschülern auch zu Missverständnissen zwischen Autist und Lehrer führen, sodass sie vielleicht etwas von ihrem Schüler verlangen, dass er gar nicht leisten kann, weil es wegen seinem Störungsbild nicht machbar ist. 

  • Struktur ist vielleicht nicht so intensiv gegeben, wie sie der autistische Schüler bräuchte
Jedes Kind braucht eine gewisse Struktur im Alltag, um gut leben zu können. Sie dient der Orientierung und ist natürlich immens wichtig. Autistische Kinder (und auch Erwachsene) brauchen aber deutlich mehr strukturierende Vorgaben. Es kann schon damit losgehen, dass der autistische Schüler in einem fremden Unterrichtsraum nicht weiß, wo er sitzen soll bzw. seine Tasche abstellen soll. Für Nichtautisten ist es vergleichbar - Tafel vorne, Tische hintereinander in zweier Reihen. Egal wo man sitzt, die Tasche ist immer rechts neben mir. Das können manche Autisten nicht - für sie ist jeder einzelne Raum neu. Ein anderes Beispiel wäre die zeitliche Einteilung bei Klausuren. Autisten können sich sehr stark an Kleinigkeiten festbeißen. Es kann sein, dass sie nicht wissen, wie die eine Aufgabe funktioniert, aber an der ersten Aufgabe festhängen und dann nicht weiter machen. Die Lehrer müssten mit dem Schüler eine Methode entwickeln, wie er es schaffen kann, die schweren Aufgaben zunächst zu ignorieren. Mitschüler ohne Autismus würden das möglicherweise deutlich leichter bewältigen. 

Fazit:

Autisten können definitiv an Regelschulen unterrichtet werden. Viele sind kognitiv definitiv in der Lage dazu und es würde sie zum Teil in ihrer Entwicklung sogar voranbringen, weil sie sich bei ihren neurotypischen Mitschülern viel abschauen können. So ein Alltag an der Regelschule ist für einen Autisten aber auch extrem anstrengend und erfordert sehr gute Zusammenarbeit zwischen Schule/Eltern/Therapeuten. Ohne die Zusammenarbeit kann so ein "Projekt" ehrlich gesagt überhaupt nicht funktionieren. Man muss aber auch immer bedenken, dass extrem viele Anpassungen vorgenommen werden müssen, wodurch sich die nicht-autistischen Mitschüler möglicherweise benachteiligt fühlen können, weil der Autist vermeintliche Extrawürste bekommt, wenn er zum Beispiel nicht auf den Pausenhof muss. Tatsächlich sind das keine Extrawürste, sondern notwendige Hilfestellungen, damit der Schüler überhaupt an der Regelschule unterrichtet werden kann. 

Man muss einfach individuell schauen, welche Bedürfnisse das Kind im Alltag hat (darüber lässt sich dann einiges herleiten, was es in der Schule dann an Unterstützung bräuchte). Außerdem muss man überprüfen, ob die Regelschule dazu in der Lage wäre, das autistische Kind zumindest anfangs stärker zu unterstützen und was sonst an Anpassungen notwendig wäre - zum Beispiel könnte man darüber nachdenken, dem Kind einen Schulbegleiter zur Seite zu stellen. Aber das ist ein anderes Thema. Grundsätzlich gilt: Nur weil das Kind Autismus hat, ist die Beschulung an einer Regelschule definitiv nicht unmöglich.

Habt einen schönen Tag!
Anne


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