Autismus und Vorstellungsgespräche

Guten Tag,

letzte Woche habe ich über die Möglichkeiten geschrieben, wo autistische Jugendliche ihre Ausbildung machen können/arbeiten können. Aber egal ob man bereits eine Ausbildung absolviert hat, oder noch eine sucht: in aller Regel ist es erforderlich ein Vorstellungsgespräch zu führen, um die Ausbildung oder die Arbeit zu bekommen. Könnt ihr euch noch an eure Vorstellungsgespräche erinnern? Wie habt ihr euch dabei gefühlt? Ich würde mal behaupten: die wenigsten Menschen, finden Vorstellungsgespräche angenehm. Natürlich gibt es Gespräche, wo die Personaler versuchen, es möglichst locker zu gestalten, weil sie um die schwierige Situation wissen und es ihren Bewerbern so angenehm wie möglich zu gestalten. Es ist und bleibt aber eins: für 99 % aller Menschen ist es unglaublich anstrengend und unangenehm, vollkommen irrelevant ob sie nun autistisch oder neurotypisch sind. Für viele autistische Menschen ist es aber tatsächlich arg schwierig, erfolgreich aus einem solchen Vorstellungsgespräch herauszugehen. Das liegt daran, dass sie sich eigentlich zu 100 % in einen Neurotypen verwandeln müssen, um das was die Personaler erwarten, erfüllen zu können. 

Was sind die Schwierigkeiten?

Mein größtes Problem war eigentlich immer, dass ich mich so "verkleiden" musste. Zum Vorstellungsgespräch erscheinen Frauen ja z. B. in Bluse und piekfeiner Hose und Männer mit Hemd, etc. So würde man im Regelfall ja niemals auf Arbeit kommen. Dort trägt man ja eher Alltagskleidung, genauso wenig würden die Personaler auf Arbeit im Anzug sitzen. Ich sehe bis heute nicht so richtig den Sinn ein, warum man sich so anziehen muss, wenn man dann ja effektiv ohnehin ganz anders auf Arbeit kommt. Inzwischen weiß ich, dass das eine Art von Respekt, dem Gesprächspartner gegenüber sein soll. "Ich habe mich extra für unser Gespräch feingemacht, der Arbeitsplatz und Sie sind mir wichtig." Aber meiner Meinung nach, wäre das Gespräch für alle Beteiligten angenehmer, wenn sowohl die Personalsachbearbeiter, als auch die Bewerber in ihren gewöhnlichen Kleidungsstücken kommen würden. Dann hätte man auch gleich einen realistischeren Eindruck von dem Bewerber! Es war auch schwierig festzustellen, ob man wirklich richtig ordentlich aussieht. Denn gerade wenn man sonst z. B. nicht so viel Wert darauf legt, ob jetzt der Scheitel akkurat gezogen ist, oder der Lippenstift gut sitzt, wird man das auch nicht unbedingt erkennen, wenn man zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wird... Wir brauchen an der Stelle also quasi immer viel Unterstützung von außen. Meine Familie ist z. B. mit mir shoppen gegangen und hat mir die Kleidungsstücke ausgesucht, die man zum Vorstellungsgespräch tragen muss und mir genau gesagt, worauf ich alles achten muss und was kombiniert wird. Alleine wäre ich damit absolut überfordert gewesen - weil es wie gesagt eine Art Verkleidung ist. 

Schwierig ist auch der geforderte Blickkontakt. Den meisten autistischen Menschen fällt es unheimlich schwer, Blickkontakt mit ihrem Gegenüber zu halten. Die angenehmere Variante - nämlich es einfach zu unterlassen, gilt in der neurotypischen Welt leider Gottes aber als unhöflich. Das Problem ist, dass wir uns schlecht auf das Gespräch konzentrieren können, wenn wir auf Krampf versuchen unseren Gesprächspartner anzuschauen. Wir können mit der Mimik unseres Gegenübers nichts anfangen, versuchen sie aber zu interpretieren, das lenkt extrem ab. Außerdem habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich schlechter sprechen kann, wenn ich mich zu stark darauf konzentriere.  Hier "beißen" sich zwei verschiedene Kulturkreise - der der neurotypischen und der der autistischen Menschen. Es hilft meistens, wenn man vor dem Gespräch ankündigt, dass man eine Form von Autismus hat, auf jeden Fall versuchen wird, den Blickkontakt zu halten, aber es keine böse Absicht ist, wenn das nicht so gelingt, wie gewünscht. Man sollte aber auch erwähnen, dass man dann besser zuhören kann. Die meisten Personalsachbearbeiter haben mit dem Wissen im Hinterkopf eine recht hohe Toleranz und rechnen es nicht als negativ an. 

Dann die Vorbereitung auf das Gespräch - das kennen vermutlich alle: welche Fragen werden wohl gestellt? Habe ich mich ausreichend vorbereitet? Darf ich mir Notizen machen oder wird das negativ gewertet? Autisten haben Schwierigkeiten, sich auf wesentliches konzentrieren. Es kann daher sein, dass sie zwar höchst intensiv über die Abteilung, in der sie später mal arbeiten könnten, informiert haben, aber dafür keine Ahnung haben, was die Firma sonst noch so macht. Hier kann es hilfreich sein, wenn eine andere Person sich vorher ein bisschen über die Firma beließt und dann den autistischen Bewerber verschiedene Dinge dazu fragt. So lässt sich ja relativ gut feststellen, ob vielleicht bzgl. anderer Themengebiete noch nachrecherchiert werden muss. Tipp: der Firma ist es zwar wichtig, dass der Bewerber einen groben Überblick hat, was sie so machen. Noch wichtiger ist es aber in der Regel, dass er sich mit seinem Aufgabengebiet auskennt. 

Ein weiteres, leider entscheidendes Problem sind die unkonkreten Fragen, die die Personaler stellen. "Erzählen Sie doch mal etwas über sich!" Ja, was denn? Soll man jetzt über seine Hobbys berichten? Oder dass man 2 Schwestern hat und eine Katze? Gut, diese Beispiele sind jetzt ziemlich weit hergeholt, aber die wenigsten Autisten können mit dieser Frage etwas anfangen. In einem Bewerbertraining vom Berufsbildungswerk habe ich erfahren, was hinter der Fragestellung steckt: nämlich eine Schilderung der beruflichen Stationen: Schule (Schulabschluss), Ausbildung, vorherige Arbeitgeber und die groben Aufgaben, die man hatte. Außerdem warum man sich für diesen Arbeitsplatz beworben hat. 

Und last, but not least haben manche autistische Menschen das Problem, dass sie unter Aufregung nicht gut sprechen können. Da ich das Problem selber habe, würde ich es mal so beschreiben: die Wörter, die man für die Antwort braucht, schwirren wie in einem Flipperautomat im Kopf rum und man muss versuchen, sie irgendwie zu fassen zu bekommen und darf dabei aber um keinen Preis den Anfang des Satzes, den man sich schon erarbeitet hat sowie die Fragestellung vergessen. Wir müssen daher quasi absolutes Multitasking betreiben. Und dabei noch Blickkontakt halten. 😉 Wenn es der Personaler erlaubt, helfen Notizen in Form von Stichpunkten ungemein, dann sieht man zumindest die Satzbestandteile, die man verwenden muss, vor sich und muss sie nicht auch noch "fangen". Das ist aber bei manchen leider nicht so gut angesehen, weil sie es als "Schummeln" auffassen. Was ich ehrlich gesagt nicht ganz verstehe, denn die anderen Bewerber könnten sich doch auch Notizen machen?! Es haben also eigentlich alle die gleichen Möglichkeiten. Und wenn man nicht alles Wort für Wort abliest, sehe ich eigentlich keinen Grund, warum das nicht gestattet ist. Auch hier kann aber ein Hinweis auf die Autismus-Spektrums-Störung hilfreich sein. 

Insgesamt gilt: je offener man mit den Personalsachbearbeitern vor dem Gespräch umgeht, desto eher können sie verstehen, warum man sich teilweise anders als neurotypische Mitbewerber verhält und haben auch Verständnis dafür. Wenn die Personaler Bescheid wissen, muss man sich möglicherweise auch nicht so krass verstellen, was den Vorteil hat, dass man seine Fähigkeiten besser entfalten kann und die Mitarbeiter besser erkennen kann, was er an dem Bewerber hat. 

In einem weiteren Beitrag werde ich Vorschläge für Personalsachbearbeiter/Chefs/Firmen äußern, wie Bewerbungsverfahren für autistische Bewerber fairer gestaltet werden könnten. 

Seid so gut es geht ihr selbst. Habt einen schönen Tag!
Anne

Quelle Bild: https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/experte-raet-fuers-bewerbungsgespraech-ja-nicht-nach-dem-lohn-fragen-ld.1067733

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