Autismus und Ernährung - Eigene Erfahrungen

Hallo!

Vor einer Weile hatte ich schon mal zwei Beiträge zum Thema Autismus und Ernährung geschrieben. Das waren natürlich nur Bruchteile von dem, was man zu diesem großen Themengebiet schreiben kann, darum wird auch dieser Beitrag hier nicht der letzte dazu sein. :-) Es wird wieder ein paar Grundinformationen zu dem Thema geben, hauptsächlich aber ein paar Anekdoten von meinen persönlichen Erfahrungen zu dem Thema. Vielleicht erkennt ihr euch ja selbst wieder (falls ihr selber autistisch seid) oder ihr versteht plötzlich euer Kind besser, wenn es mal wieder Schwierigkeiten bei den Essenssituationen gibt (wenn ihr Eltern autistischer Kinder seid). 

Lebensmittel ist nicht gleich Lebensmittel!

Grundsätzlich könnte man von folgender These ausgehen: Lebensmittel ist Lebensmittel (also z. B. Weizenbrötchen werden gegessen, weil sie Weizenbrötchen sind und dieselbe Konsistenz haben). Das ist aber tatsächlich ein ziemlicher Trugschluss. Dazu kann ich eine Geschichte aus der Ausbildung erzählen. Ich war Wohnheimbewohnerin, bin also früh in der Kantine frühstücken gegangen. Immer dasselbe: 2x Baguettebrötchen, Butter (später habe ich es dann geschafft, noch Honig, Pflaumenmus oder Sauerkirschmarmelade mit in mein Frühstück zu integrieren, das hat aber eine ganze Weile gedauert und ist jetzt auch nicht Thema.). Dazu gab es Pfefferminztee. Soweit so gewöhnlich. Bis eines Tages nur Kaiserbrötchen (also runde), nicht aber meine gewohnten Baguette-Brötchen zur Verfügung standen. Katastrophe. Ich hatte nie zuvor beim Frühstück Kaiserbrötchen gegessen sondern IMMER meine Baguette-Brötchen. Es war absolut unmöglich, spontan auf das Kaiserbrötchen umzusteigen, denn das sieht schon mal ganz anders aus und fasst sich auch anders an. Keine Chance. 

Nach viel gutem Zureden meiner Freundinnen konnte ich mich dann dafür entscheiden, stattdessen Weißbrot zu nehmen, das war immerhin etwas, was ich sonst auch gegessen hätte. Der Tag war trotzdem gelaufen, weil in meinem Frühstücks-Ablaufprogramm Baguette-Brötchen ein fester Punkt waren, die eigentlich unter keinen Umständen austauschbar waren. Den Belag konnte ich wechseln, je nachdem worauf ich Appetit hatte, aber nicht die Brötchensorte. Keine Chance. Wie es aber in einer Kantine so ist - es kommt nicht immer rechtzeitig Lieferung und man muss teilweise Ersatzprodukte anbieten, in dem Fall also andere Brötchen. Es war quasi nicht die einzige Situation, wo es die Brötchen nicht gab. Und jedes Mal führte es dazu, dass mich das komplett aus dem Konzept gebracht hat. Gott sei Dank gab es eine extrem liebe Küchenfrau, die offenbar Verständnis für autistische Menschen hatte. Erstens hat sie mir wann immer es möglich war, die Baguette-Brötchen zurückgelegt, wenn sie gemerkt hatte, dass sie bald alle sind (und hat diese Aufforderung an ihre Kollegen weitergegeben). Außerdem hat sie gemerkt, dass es mich überfordert, wenn ich auch noch spontan nach einer Ersatzlösung suchen muss. Wenn sie also wusste, dass definitiv keine Baguette-Brötchen da sein werden, hat sie mir immer 2 Scheiben Weißbrot auf einen Teller gelegt. Das war quasi das Back-Up, mit dem ich mich nicht beschäftigen musste, in der Situation wo ich ohnehin schon Schwierigkeiten habe. Ein fettes Dankeschön an diese liebe Frau. ❤️❤️❤️❤️ Ich bin ihr noch heute unfassbar dankbar dafür!)

Es ist also wichtig, dass ihr euch merkt: wenn es immer exakt dasselbe Lebensmittel gibt, könnt ihr mitnichten davon ausgehen, dass wir problemlos auf ein anderes umsteigen können. Selbst wenn wir es wollen (es wäre für mich deutlich entspannter gewesen, wenn ich beide Brötchensorten gegessen hätte, aber es geht leider nicht!), braucht es unfassbar viel Gewöhnungszeit, bis das überhaupt möglich sein könnte. 

Manche Autisten haben einen speziellen Geschmackssinn!

Alle Autisten haben einen Sinn (Hören/Sehen/Schmecken/Riechen) der besonders scharf gestellt ist. Welcher das ist, ist bei jedem Autisten unterschiedlich, aber er/sie nimmt über diesen Reiz Dinge wahr, die andere überhaupt nicht merken können. Ich habe zum Beispiel schon von einer Mutter eines autistischen jungen Mannes gelesen, dass er in ihrem Garten ein intensives Echo hört, und deswegen mit Freuden irgendwo steht und klatscht oder Geräusche macht. Auch eine Autistin, die mit ihrem Sohn befreundet ist, hat sie auf dieses tolle Echo hingewiesen - jetzt das Spezielle: die Mutter kann es nicht wahrnehmen. Für sie hört es sich in dem Garten überall gleich an und sie hört nicht das geringste Echo. Spannend oder? 

Ich habe einen speziellen Geschmackssinn. Ein gutes Beispiel dafür ist Butter. Ich habe schon in den anderen Beiträgen erwähnt, dass Butter grundsätzlich ein Lebensmittel versauen kann. Nun habe ich aber das "Problem" dass die Butter wenn sie älter wird, ihren Geschmack verändert. Egal wem ich das erzähle - er sagt mir, dass es sich dabei um pure Einbildung handelt. Das ist aber nicht der Fall. Ich kann wirklich einen extremen Unterschied schmecken. So stark, dass ich es sogar ausspucken muss, wenn es soweit ist. Ich muss mich dann sogar bemühen, nicht zu brechen - so heftig ist der Geschmack. Ich vermute, dass Neurotypen die Geschmacksveränderungen nicht herausschmecken können. Ich kann euch versichern: es ist keine Einbildung. Ich schmecke das nämlich auch bei Butter, wo ich nicht weiß wie alt sie ist. Das Problem ist, dass ich dadurch einen ziemlichen Verschleiß an diesem Lebensmittel habe. Ich kann sie nicht mehr verwenden, sobald sie ihren Geschmack verändert hat. Ich kaufe ohnehin nur noch Minibutter (z. B. gibt es von Minus L eine Butter, die ist gerade mal halb so groß wie eine richtige Butter.) Ich würde zwar Butter mit Laktose vertragen, aber die meisten Butterstücke sind zu groß. Ich kann sie nicht aufessen, bevor das passiert, was ich beschrieben habe. 

Ein weiteres Kunststück was ich beherrsche: ich kann Zwiebeln mit hundertprozentiger Erfolgsgarantie aus jedem Lebensmittel herausschmecken. Egal ob echte Zwiebeln oder Zwiebelpulver verwendet wurde oder wie intensiv der Geschmack des Lebensmittel ist, das mit der Zwiebel "verfeinert" 😱 wurde - ich schmecke es. Und dann ist das komplette Gericht versaut, denn ich hasse Zwiebel abgrundtief. In Bolognese, also Hackfleisch vermischt, kann ich sie akzeptieren, aber sobald sie irgendwo pur dran ist, ist der Geschmack nicht auszuhalten. 

Autisten können eine veränderte Körperwahrnehmung haben!

Das kann dazu führen, dass sie entweder ein sehr geringes bis nicht vorhandenes Hungergefühl/Durstgefühl haben oder im Gegenteil erst sehr spät bemerken, wenn ihr Magen bereits voll ist. Bei mir ist das letztere der Fall. Ich werde sehr spät satt, was ein ziemliches Problem ist. Wer hört mit essen auf, wenn er das Gefühl hat, dass er noch nicht satt ist? Die wenigsten. Es kann in solchen Fällen (sowohl wenn zu wenig Hungergefühl besteht und auch wenn man nicht rechtzeitig merkt, dass man satt ist), helfen oder sogar notwendig sein, gewisse Pläne auszuarbeiten. Wenn ein Autist kein Hungergefühl hat, müsste man eben einen Zeitplan aufstellen und darauf vermerken, zu welcher Uhrzeit was und wie viel gegessen werden soll. Wenn man kein gutes Sättigungsgefühl hat, muss man einen Plan machen, was eine gewöhnliche Portionsgröße ist und wieviel man am Tag von welchen Lebensmitteln essen sollte. Ich habe beispielsweise eine solche Tabelle in der Küche hängen, es ist aber trotzdem schwierig, sich danach zu richten, wenn man die Lebensmittel nicht einzeln abwiegen möchte. 

Viele Autisten essen nur sehr ausgewählte Lebensmittel.

Ich würde mal behaupten, das Lebensmotto vieler Autisten lautet: "Bloß keine Überraschungen!" Denn alles was neu ist, macht erst mal unsicher. Darum haben viele (mir inklusive) eine limitierte Anzahl an bestimmten Lebensmitteln, die sie essen und sich an neues heranzutasten, kann sich außerordentlich schwierig gestalten. Wie soll man das am besten beschreiben? Es gibt eine enorme Sicherheit, wenn man genau weiß, wie die Konsistenz und der Geschmack der Lebensmittel ist, die man gleich in den Mund stecken muss. Es erfordert keine spezielle Beschäftigung mit dem Lebensmittel her und verbraucht nicht wertvollen Arbeitsspeicher unseres Gehirns, den wir vielleicht für unerwartete Situationen benötigen könnten. Es ist extrem schwierig, sich dafür zu entscheiden, etwas neues zu probieren. Denn schließlich ist alles was damit zu tun hat, noch unbekannt. Und wofür sollte man sich überwinden? Im Prinzip gibt es meistens keinen plausiblen Grund, weswegen man das tun sollte. Ist viel zu anstrengend, sag ich jetzt mal. 

Wenn wir etwas neues probieren sollten, ist es am hilfreichsten, wenn man das Produkt erst einmal untermischt unter etwas, was wir schon kennen. Zucchini-Puffer zum Beispiel habe ich schon gegessen, weil ich Puffer gern esse und die Zucchini zu einer Konsistenz verarbeitet wurde, in der ich sie von den anderen Zutaten (bis auf der grünlichen Färbung) nicht erkannt habe. Ich wusste das Zucchini enthalten war, es war aber trotzdem in Ordnung, weil ich mich zumindest nicht mit der möglichen Konsistenz beschäftigen musste. Eine Zucchini in Würfeln geschnitten und angebraten, konnte ich bisher noch nicht probieren. Das liegt einfach daran, dass ich nicht weiß, wie sie schmeckt und überhaupt. Brokkoli konnte ich in einem Kartoffelauflauf "verpackt" auch schon probieren, aber pur? Nee. Denn er könnte dann anders schmecken als in dem Gesamtpaket. Schwierig zu erklären. 

Worauf ihr euch auf jeden Fall schon mal einstellen könnt: wir werden ein neues Lebensmittel (genau wie Veränderungen im Allgemeinen) nicht von heute auf morgen in unser Leben oder Ernährungsplan integrieren können. Das geht nur Schritt für Schritt. Wie oben schon angedeutet, habe ich in der Kantine anfangs nur Butter auf das Baguette-Brötchen gemacht. Irgendwann wollte ich von mir aus, auch mal etwas auf das Brötchen machen, aber es war ja nicht in mein Frühstücks-Programm integriert. Also habe ich mit meiner lieben Mama ❤️ damals vereinbart, dass ich zunächst die Packungen erst mal nur mitnehme an den Tisch, sozusagen, damit das schon mal zur Routine wird und ich mich daran gewöhnen kann. Wir haben darauf gesetzt, dass das schon jemand am Tisch essen wird, bzw. kann man Honig ja auch in den Tee rühren. Nachdem das irgendwann zur Selbstverständlichkeit geworden ist, konnte ich dann langsam aber sicher damit anfangen, den Aufstrich mit einem kleinen Löffel separat zu probieren. Als letztes kam dann erst der Schritt, es auf dem Brötchen zu verteilen und es dann zu essen. Bringt also am besten ein bisschen Geduld mit und baut es Stück für Stück aus. An die Autisten unter euch, die mit neuen Lebensmitteln ebenfalls so ihre Probleme haben: Traut euch, sie zu probieren. Für mich war es total schön, dass ich dann ein bisschen Abwechslung auf den Frühstückstisch bringen konnte. Es kann sich auf jeden Fall lohnen!

In diesem Sinne: "Prost und Guten Appetit!" 🍑🍌🍒🍬🍡🍖🍕 Habt einen schönen Tag!
Anne

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