Autismus und Ausbildung - Werkstatt für behinderte Menschen, Berufsbildungswerk oder doch freier Arbeitsmarkt?

Hallo!

Man hört oft, dass man seine Schulzeit in jedem Fall genießen sollte, da anschließend der Ernst des Lebens anfängt. Nicht nur Autisten stellen sich dann die Frage, wie genau der Ernst des Lebens dann aussehen mag. Möchte man studieren oder eine Ausbildung machen? Und wenn ja, welche Ausbildung? Oder führt einen der Weg in eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung? Definitiv eine schwierige Frage, die man nicht einfach mal so beantworten kann. Mir wurde diese Entscheidung damals durch eine Art Erpressung von der Mitarbeiterin des Arbeitsamtes abgenommen. Sie hat mir zur Wahl gestellt: entweder das Berufsbildungswerk Dresden oder Werkstatt für behinderte Menschen. Ich wusste, dass ich nicht in die Werkstatt möchte, weil ich gerade meinen Realschulabschluss mit "gut" abgeschlossen hatte und unbedingt eine Ausbildung im Bürobereich machen wollte, war aber auch verzweifelt, weil ich auf gar keinen Fall weg von zu Hause wollte. Im Prinzip wurde mir quasi keine echte Wahl gestellt. 

Im Nachhinein betrachtet, war es die beste Entscheidung meines Lebens, sonst hätte ich vermutlich jetzt keine eigene Wohnung und würde mich nicht so entfalten können, wie ich es jetzt inzwischen kann. Damals war es aber wirklich heftig und ich nehme das der Mitarbeiterin auch nach wie vor übel, dass sie uns keine wirkliche Alternative vorgestellt hat. Es wurde nicht geschaut, ob ich möglicherweise auch auf dem ersten Arbeitsmarkt geschafft hätte, eine Ausbildung zu absolvieren. Ich würde vermuten nein, weil ich erst mal schon in dem Berufsbildungswerk total überfordert war, aber es gibt durchaus Autisten, die schaffen eine reguläre Ausbildung in einem ganz normalen Betrieb oder können mit Unterstützung und Nachteilsausgleichen sogar studieren! Glaubt nicht, dass ein autistischer Mensch unbedingt in eine super behütete Werkstatt gehen muss, wenn die Rahmenbedingungen stimmen, können sie richtig viel von ihrem Potential entfalten und ein super hilfreicher Mitarbeiter sein! Das muss man individuell prüfen!

Werkstatt für behinderte Menschen

Wenn es sich um einen schwer-autistischen Menschen handelt, der extreme Probleme mit größeren Menschengruppen und erhebliche Probleme mit Reizüberflutung hat, einen super strukturierten Tag braucht und Menschen, die ihn intensiv anleiten können, dann ist die Behindertenwerkstatt ein perfekter Arbeitsplatz für ihn. Es gibt feste Kleingruppen und Mitarbeiter die speziell geschult sind und sich mit dem Störungsbild auskennen. Man kann dort deutlich besser auf die individuellen Bedürfnisse des autistischen Menschen eingehen. Bei Bedarf ist in manchen dieser Einrichtungen sogar eine Pflegekraft vor Ort. In Werkstätten für Menschen mit Behinderung wird ganz individuell geschaut, was jeder einzelne für Fähigkeiten hat, wie man sie am sinnvollsten nutzen kann und er wird individuell gefördert. Oben genannte Autisten können sich in einer solchen Einrichtung garantiert sehr gut entfalten und können ihre Stärken dort optimal nutzen, weil die Rahmenbedingungen stimmen, die sie dafür benötigen.

Minuspunkte für eine solche Wahl: Menschen in Behindertenwerkstätten verdienen in der Regel kein Geld. Also sie bekommen Geld, aber so einen geringen Betrag (meist nicht über 200 € pro Monat, eher weniger), dass es definitiv nicht mit einem gewöhnlichen Gehalt vergleichbar ist. Außerdem ist es in einer Werkstatt in der Regel nicht möglich eine Berufsausbildung zu machen. 

Ausbildung in einem Berufsbildungswerk

Wenn der autistische Jugendliche nicht an einer Regelschule gelernt, aber einen normalen Real-/Hauptschulabschluss absolviert hat, kommt ein Berufsbildungswerk in Betracht. Es handelt sich dabei um eine überbetriebliche Ausbildung. Es gibt Berufsbildungswerke in vielen Städten von Deutschland, mir fallen spontan: Leipzig (speziell für Hör- und Sprachbehinderte Jugendliche), Dresden, Gera, Cottbus, Neckargemünd, Volmarstein ein. Die Berufsbildungswerke Neckargemünd und Volmarstein haben sich explizit auf autistische Jugendliche spezialisiert. Es ist aber mitnichten erforderlich, unbedingt in einem auf Autismus spezialisierten Berufsbildungswerk die Ausbildung zu absolvieren. In nahezu jedem dieser Ausbildungsstätten sind die Mitarbeiter auch auf Autismus spezialisiert. 

Die Ausbildung findet in Kleingruppen statt und wird von speziell ausgebildeten Ausbildern geleitet. Es wird gemeinsam mit dem Azubi daran gearbeitet, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen und welche Unterstützung erforderlich ist, damit die Ausbildung so gut wie möglich verläuft. Man kann während der Ausbildung therapeutische Maßnahmen (wie z. B. Ergotherapie, Physiotherapie, Heilpädagogik) wahrnehmen. Die meisten Berufsbildungswerke haben Wohnheime, damit auch Auszubildende die weiter weg wohnen, dort eine Ausbildung absolvieren kann, das ist aber nicht für jeden autistischen Jugendlichen etwas, da das natürlich immer eine komplette Veränderung des gewohnten Umfelds und den Routinen einhergeht. Ich fand es am Anfang extrem schwierig, damit umzugehen. Wenn die Jugendlichen nach der Schule noch nicht sicher sind, welche Ausbildung sie ergreifen wollen, bietet sich eine Berufsvorbereitende Maßnahme an: dabei dürfen sie verschiedene Berufe ausprobieren und werden vom Ausbilder und den Therapeuten dabei beraten.

Nachteil an Ausbildung an Berufsbildungswerken: wie auch bei den Werkstätten für behinderte Menschen, bekommen die Auszubildenden sehr wenig Geld. Es handelt sich ungefähr um einen ähnlichen Betrag. Meistens nicht höher. Hier liegt es daran, dass es sich dabei um eine rehapädagogische Maßnahme handelt, die von der Agentur für Arbeit finanziert wird. Das Mittagessen (und für Auszubildende, die das Wohnheim nutzen, auch Frühstück und Abendbrot) sind kostenlos. Bei den Nicht-Wohnheim-Auszubildende ist der Geldbetrag den sie monatlich enthalten ein wenig höher, weil sie ja nicht das Frühstück und Abendbrot bezahlt bekommen. Es liegt aber auch daran, dass in einem Berufsbildungswerk anders als bei einer Firma keine Gewinne erzielt werden, durch den Verkauf von Produkten, etc. Es handelt sich eben um eine überbetriebliche Ausbildung. Wie soll also ohne Gewinnerzielung etwas an die Azubis gezahlt werden? Ein weiterer Nachteil ist, dass in vielen Berufen die Praxis fehlt. Büroberufe werden überwiegend in Übungsfirmen erlernt, aber es ist eben nicht dasselbe, wie wenn man in einem richtigen Betrieb oder in der Verwaltung lernt, und richtig mit Bürgern Kontakt hat. Da ist es in den Bereichen Metall, IT oder z. B. bei Steuerfachangestellten besser. Um die fehlende Praxis auszugleichen, findet pro Lehrjahr mindestens ein Praktikum auf dem freien Arbeitsmarkt statt. Die Azubis werden auch dabei natürlich von den Ausbildern unterstützt. Die Ausbildungen sind wirklich gut, zumal sie von der Theorie viel tiefer gehen können, als das bei Azubis auf dem freien Arbeitsmarkt der Fall wäre, aber es ist eben nicht mit der direkten Erfahrung in einer Firma vergleichbar. 

Dafür erhält der Jugendliche aber wie gesagt jegliche Unterstützung die er braucht und erlebt nicht die Überforderung durch zu große Berufsschulklassen, ungünstige Arbeitsbedingungen, etc. Nach der Ausbildung im BBW werden die Azubis dabei unterstützt eine Arbeitsstelle am freien Arbeitsmarkt zu finden. 

Ausbildung am freien Arbeitsmarkt

Aber auch ein autistischer Mensch muss nicht zwangsläufig seine Ausbildung in einem Berufsbildungswerk machen oder arbeitet in einer Werkstatt für behinderte Menschen. Gerade bei autistischen Jugendlichen, die ihre Schulzeit an einer Regelschule oder sogar am Gymnasium verbracht haben, haben teilweise die Möglichkeit eine Ausbildung auf dem freien Arbeitsmarkt zu machen oder sogar zu studieren. Es gibt sogar Arbeitgeber, die Autisten bevorzugt einstellen, ein Beispiel wären die Firmen Auticon oder SAP (beide in der IT-Branche ansässig) Die beiden Betriebe wissen die speziellen Fähigkeiten und Stärken ihrer autistischen Mitarbeiter zu schätzen und sorgen für ein autismusgerechtes Arbeitsumfeld (z. B. Einzelbüro, schriftliche Kommunikation statt mündlicher wenn das benötigt wird, etc.). Aber auch für autistische Menschen die nicht so computeraffin sind, kann sich für jeden Autisten ein geeigneter Arbeitsplatz finden. Man darf wirklich nicht denken, dass Autisten ausschließlich fernab von Kundenkontakt, möglichst alleine mit Computern arbeiten kann - es gibt sehr wohl auch autistische Menschen, die sogar gut mit Kunden umgehen können, solange das auf der sachlichen Ebene bleibt und es um die Arbeit geht. Das ist aber von Autist zu Autist unterschiedlich. 

Selbstverständlich kann man sich diesbezüglich beraten lassen. Einerseits hilft natürlich die Agentur für Arbeit - für Menschen mit Behinderung gibt es sogar spezielle Sachbearbeiter. Helfen können aber zum Beispiel auch die Joblotsen, oder Anlaufstellen wie die Diakonie, etc. Der Psychologe/Therapeut der die Autismus-Diagnose gestellt hat, wird aber auf jeden Fall Anlaufstellen kennen oder kann selbst bei dieser spannenden Phase unterstützen. 

Der Nachteil an einer Ausbildung am freien Arbeitsmarkt ist natürlich, dass nicht sicher gestellt werden kann, dass der Autist ein für ihn gut passendes Arbeitsumfeld vorfindet. Außerdem ist viel Aufklärungsarbeit bei Berufsschullehrern, Kollegen, Mitazubis notwendig, weil sich nicht jeder mit dem Störungsbild auskennt, ist ja ganz logisch. Es wäre schon wichtig, da ganz genau zu schauen, auch wenn der Autist auf einer Regelschule gelernt hat, muss das nicht bedeuten, dass er auch auf dem freien Arbeitsmarkt gut klarkommt. Genauso gut ist es aber auch nicht in Stein gemeißelt, dass ein Autist der z. B. eine Förderschule besucht hat, nicht in der freien Wirtschaft einen Arbeitsplatz finden kann. Es kommt immer darauf an, dass das Arbeitsumfeld passt und der Arbeitgeber bereit ist, auf die teilweise spezielleren Bedürfnisse von autistischen Auszubildenden einzulassen. 

Wichtig ist nur, dass ihr wisst: mit Unterstützung und Anpassungen stehen erst einmal grundsätzlich alle Möglichkeiten offen. Ist das nicht ein schöner Gedanke? 

Habt einen schönen Tag!
Anne

Kommentare