Autismus in Filmen - Tonis Welt (VOX-Serie) - Spoiler-Warnung!

Hallöchen,

habt ihr schon die neue VOX-Serie "Tonis Welt" entdeckt?  Heute werde ich meinen ersten Eindruck zu der Serie schildern. Achtung: um die Serie auf Realismus überprüfen zu können, muss ich auf bestimmte Szenen eingehen, also wenn ihr die Serie noch nicht gesehen habt und ihr auf gar keinen Fall irgendwelche Vorinformationen haben möchtet, solltet ihr diesen Beitrag vielleicht lieber zunächst ignorieren und später lesen. 

Worum geht es?

"Tonis Welt" ist eine Weiterentwicklung der Serie "Club der Roten Bänder". Der junge Asperger-Autist Toni und seine Freundin Valerie (Tourette-Syndrom) beschließen in das Haus von Valeries verstorbener Oma aufs Land zu ziehen. Bei dem Versuch die Bewohner des Orts kennenzulernen und sich das Haus so einzurichten, dass sie sich wohlfühlen und bei dem Versuch eine Arbeit zu finden, geraten die beiden behinderungsbedingt in die eine oder andere skurrile Situation. Toni wird von Ivo Kortlang und Valerie von Amber Bongard gespielt. 

Wie realistisch empfinde ich die Darstellung von Toni als Aspie?

Nun da ihr einen groben Überblick darüber habt, worum es geht, werde ich darauf eingehen, wie realistisch oder unrealistisch ich die Darstellung des Asperger-Syndroms finde. Ich werde auf einzelne Szenen aus den ersten beiden Folgen eingehen: 

- Die Tankstellen-Szene: Toni und Valerie sind bestohlen worden. Sie haben nun kein Geld mehr. Damit sie wenigstens das Haus erreichen können, ordnet Valerie an, dass Toni in die Tankstelle gehen soll und die Verkäuferin mit dem Beratungsbedarf an laktosefreier Schokolade ablenken soll, während sie heimlich das Auto volltankt um dann abzuhauen. Toni ist absolut dagegen und äußert seinen Unmut, versucht es dann aber dennoch und scheitert gnadenlos. Erst stammelt er rum und wirkt, als würde er vor Aufregung gleich umkippen, dann haut er der Kassiererin die ganze Wahrheit um die Ohren. Unauffällig verhalten hat er sich übrigens auch nicht, weil er die ganze Zeit zu Valerie geschaut hat.

Sehr realistisch! Mir war von Anfang an klar, dass Valeries Plan nicht funktioniert. Autisten sind wahnsinnig gesetzestreu und können verdammt beschissen lügen und schon gar nicht unauffällig sein, wenn sie gerade etwas verbotenes tun. 

- Toni will unter keinen Umständen berührt werden: sehr realistisch, Autisten mögen Berührungen in der Regel gar nicht

- Valerie sitzt sehr geknickt da. Toni ist unsicher, wie sie sich fühlt und schaut in einem Buch, dass sein Opa gestaltet hat (mit Fotos wo einzelne Emotionen dargestellt sind) nach, um herauszufinden, welches Gefühl sie gerade hat. 

Semi-Realistisch: Ja, es fällt Autisten schwer, Emotionen zu erkennen und zu interpretieren. Wir können das intuitiv nicht gut herausfinden. Das mit dem Buch ist aber übertrieben, die wenigsten autistischen Menschen erkennen wirklich gar keine Emotionen. Das Erkennen von den Grundemotionen wie Freude, Trauer oder Wut sollte bei den meisten Autisten durchaus drin sein. Bei spezifischen Gefühlen wie Heimweh, verliebt sein, etc. gehe ich mit, das ist zu schwierig. Toni hätte also zumindest ohne das Gefühls-Buch erkennen können müssen, dass Valerie traurig ist. Warum, hätte sie ihm dann vermutlich erklären müssen.

- in der Bäckerei bestellt Toni immer 1:1 dasselbe Brötchen und hat spezielle Anforderungen, wie der Belag drapiert sein muss

realistisch. Viele Autisten sind sehr selektive Esser, das bedeutet sie essen viele Lebensmittel gar nicht und manche nur in Kombination mit anderen Lebensmittel, in bestimmter Konsistenz, etc. Außerdem spricht es für die Ritualliebe von Autisten. Es beruhigt uns, wenn alles so ist wie immer oder sich wiederholt. 

- Toni ist in der Regel derart direkt, dass es schon an Beleidigung grenzt. Er hinterfragt sich überhaupt nicht, ob die Aussage das Gegenüber eventuell verletzen könnte oder dass es vielleicht kontraproduktiv für das erreichen des eigenen Ziels ist. 

Semirealistisch: Es wird hier auf die Direktheit angespielt, die die meisten Autisten an den Tag legen. Gemeint ist, dass genau das gesagt wird, was sie denken. Das ist auch richtig, wir bevorzugen die direkte Kommunikation und sehen nicht unbedingt den Sinn darin, etwas durch die Blume zu sagen. ABER: Die meisten Autisten besitzen schon so eine Art Grund-Taktgefühl und haben eine Idee davon, was das Gesagte bei dem Gegenüber auslösen könnte. 

- Toni verfolgt den Arzt, bei dem er arbeiten möchte. Ohne Rücksicht darauf, dass der Mediziner ihn nicht einstellen möchte und offensichtlich private Probleme hat, läuft er ihm Tag für Tag bei seinen Hausbesuchen hinterher (wortwörtlich) und ist absolut nicht davon abzubringen, vollkommen unabhängig davon, dass er Ablehnung erfährt. Auslöser ist vermutlich, dass die Mitarbeiterin vom Arbeitsamt gesagt hat, dass Hartnäckigkeit sinnvoll bei der Jobsuche sei. 

Unrealistisch!! Er wird hier wie ein absoluter Stalker dargestellt. Ja, Autisten können sehr hartnäckig sein, wenn sie etwas wollen, aber ich kenne nicht einen einzigen Autisten, der so krass drauf wäre, dass er seinem Wunscharbeitgeber in Person nonstop hinterherläuft. Außerdem erkennen auch Autisten recht gut, wenn sie unerwünscht sind und ignorieren das nicht komplett, wie Toni es tut. Die meisten würden vielleicht noch 1 - 2 Mal nachfragen, aber auf gar keinen Fall weitermachen, wenn sie die ganze Zeit ignoriert werden oder ihnen ganz klar gesagt wird, dass sie aufhören sollen. Das ist einer der größten Kritikpunkte, die ich in den ersten zwei Folgen erkannt habe. 

- Toni wirkt etwas arg kindlich. Er erzählt sämtlichen Bewohnern des Orts seine halbe Lebensgeschichte, vollkommen irrelevant wem und ob die Menschen sich dafür überhaupt interessieren. Außerdem stellt er sich wildfremden Menschen vor mit: "Hallo ich bin Anton Vogel, aber meine Freunde sagen auch Toni zu mir") und grüßt jeden, aber auch wirklich jeden Menschen im Ort. 

Semirealistisch: Die meisten Menschen im Autismus-Spektrum können schon abschätzen, wem sie was erzählen und die wenigsten würden sich so vorstellen, wie Toni es tut. 

- Toni bereitet sich auf das Treffen mit Valeries Familie vor und schaut sich youtube-Tutorials an, wie man am besten bei anderen Menschen ankommt. Dadurch, dass er aber nicht intuitiv handelt, sondern ein auswendig gelerntes Verhalten an den Tag legt, wirkt es ein bisschen arg strange und sehr gekünstelt. 

Realistisch. Ich fand die Szene schon ein bisschen niedlich. Auch Autisten ist es nicht egal, wie sie auf andere wirken, machen es aber nicht intuitiv automatisch richtig. Daher finde ich Tonis Lösungsansatz schon recht angemessen und geeignet. Da man es aber nicht intuitiv macht, sondern nur denkt, dass es vielleicht so aussehen könnte, kann es durchaus sein, dass man beim Versuch es umzusetzen ein bisschen eigenartig wirkt. 

Grundsätzliche Anmerkungen:

Ich finde die Serie sehr anstrengend, weil sie gefühlsüberladen ist. Gleich zu Beginn der Serie treten sehr viele Konflikte auf (Toni und Valerie streiten ein bisschen, Valeries Mutter streitet sich mit Valerie, ...), dann haben wir Valeries Trauer weil ihre Oma gestorben ist (sie weint sogar, für Autisten ist das ein heftiges Gefühl, das sehr irritieren kann), Valerie scheint sich Vorwürfe zu machen, weil sie ihre Oma vor deren Tod nicht oft genug besucht hat. Diese Überflut an auftretenden Gefühlen der dargestellten Personen, und den sozialen Missverständnissen, können Autisten überfordert werden. Wir scheinen daher nicht unbedingt die Zielgruppe zu sein, und wenn dann eher mit Begleitung, mit der wir dann über den Film sprechen können und die auch ein bisschen übersetzen. 

Ich finde es positiv, dass gezeigt wird, dass Autisten über sich hinauswachsen können (z. B. schafft es Toni, sich von seiner heißgeliebten Modell-Eisenbahn zu trennen, um eine Geldsumme erreichen zu können, die der Bankangestellte verlangt, um ihnen einen Kredit zu geben.), wenn es für ein Ziel ist, dass sie wirklich mitreißt. Tonis absolutes Spezialinteresse ist die Modelleisenbahn-Platte, es kostet ihn also einiges an Überwindung. 

Der Umzug in die vollkommen fremde Umgebung lief mir aber für meinen Geschmack etwas zu glatt ab. Die allermeisten Autisten würden ziemliche Probleme mit der Umgewöhnung haben: vollkommen fremde Umgebung, Beendigung der gewohnten Arbeitsstelle, verabschieden von Personen, die einem wichtig sind - das ist für autistische Menschen unheimlich schwer. Weiß ich aus eigener Erfahrung. Ich hatte in meiner Berufsausbildung schon Schwierigkeiten, wenn sich die Räume nach dem Ende des Lehrjahres verändert haben oder wir für die Grundreinigung in den Ferien (wo wir zum Praktikum noch da waren) ein anderes Zimmer im Wohnheim bewohnt haben für eine kurze Zeit. Da soll Toni es problemlos geschafft haben umzuziehen, nur weil er das für Valerie möchte? Nee. Wirklich nicht. 

Ich möchte aber ein großes Lob an Ivo und Amber aussprechen, sie spielen wirklich gut und man könnte den Eindruck haben, sie sind die Personen, die sie spielen. Ivo hatte sich schon für Club der roten Bänder informiert, wie es ist Autismus zu haben und wie sich Autisten verhalten. Diese Mühe machen sich nicht alle. Zugegeben, manche Dinge sind logischerweise unrealistisch, aber das darf man nicht zu eng sehen, denn Ivo ist nun mal kein Autist, er spielt ihn nur und ein bisschen ist es ja auch aus dramaturgischen Gründen besser, wenn man ein bisschen übertreibt und die Szene überspitzt darstellt. Insgesamt würde ich der Serie:

⭐⭐⭐ von ⭐⭐⭐⭐⭐ Sternen geben! Ich gucke sie nicht weiter, weil sie mir wie gesagt zu anstrengend ist, obwohl ich den Charakter Toni wirklich mag, weil er eben wie ich autistisch ist. 

Habt einen schönen Tag!
Anne

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