Soll ich Freunden/Angehörigen/Arbeitgebern von meiner Diagnose erzählen?

 Hallo ihr Lieben,

willkommen zurück. Der heutige Beitrag richtet sich hauptsächlich an autistische Menschen, die ihre Diagnose gerade frisch erhalten haben, bzw. an Autisten, die gerade neue Personen kennengelernt haben, etc. Neben vielen anderen Gedanken, die einem da so durch den Kopf kreisen ist das vermutlich die häufigste Frage, die einen beschäftigt. Ich weiß seit 2013 dass ich im Autismus-Spektrum bin und beschäftige mich nachwievor ab und zu mit dieser Frage. Und ich gehe auch davon aus, dass das immer so bleiben wird. Darum dachte ich, ich gebe euch mit auf den Weg, was ich so in Erwägung ziehe, wenn ich mich damit auseinander setze. 😉 Vielleicht hilft sie euch ja bei eurer Entscheidungsfindung. 

Es gibt natürlich immer zwei Seiten - Chancen und Risiken. Fangen wir mal mit den Risiken an:

  • Es erfordert viel Mut, weil man logischerweise nicht weiß, wie das Gegenüber reagiert.
  • Es herrschen nachwievor viele Vorurteile über Autismus, entsprechend müsste evtl. eine Menge Aufklärungsarbeit geleistet werden.
  • Gerade Jugendlichen ist es möglicherweise peinlich, dass sie ein bisschen anders ticken als ihre Freunde. 
  • Manche Menschen verhalten sich eventuell plötzlich anders, weil sie zu wenig über Autismus wissen und irgendwie unsicher sind, vielleicht etwas falsch zu machen. 
  • Möglicherweise erfährt man Benachteiligungen weil das Umfeld Angst davor hat, mit den Auswirkungen, die durch Autismus entstehen können, nicht umgehen zu können. 
Das sind die Hauptrisiken, die mir so spontan einfallen, wenn ich darüber nachdenke, ob ich jemandem von meiner Autismusdiagnose erzählen möchte. Sicher kann es sein, dass das Umfeld nicht wie gewünscht reagiert, manche Personen vielleicht nicht damit umgehen können und das Gespräch vielleicht nicht so gut verläuft wie gehofft. Es gibt aber auch ganz viele Chancen, die das Offenlegen der Diagnose mit sich bringen kann:
  • Nachteilsausgleiche z. B. in der Schule sind möglich. Wenn die Schule von nichts weiß, können sie auch keine gewähren. (Ich schreibe im nächsten Beitrag über die Nachteilsausgleiche!)
  • bei Schwerbehindertenstatus möglicherweise bessere Chancen auf einen Arbeitsplatz (Schwerbehinderte/gleichgestellte Menschen müssen bei gleicher Eignung bevorzugt eingestellt werden.)
  • Möglicherweise entsteht eine größere Akzeptanz im Umfeld, weil die Menschen dann wissen, weswegen man sich so verhält, wie man sich verhält. 
  • Man muss sich weniger verstellen, denn die Menschen wissen dann ja schon Bescheid, das bedeutet wesentlich weniger Stress, den man am Tag so erlebt. (Sich die ganze Zeit verstellen zu müssen ist tierisch anstrengend!)
  • Die Stärken, die viele autistische Personen mitbringen, können viel besser eingesetzt werden, weil der Arbeitgeber einem wenn er das weiß, mehr Aufgaben zuteilt, wo diese Stärken gezielt genutzt werden können. 
  • Das Umfeld kann sich viel besser auf die autistische Person einstellen und sich ein bisschen anpassen (z. B. weniger Sprichwörter verwenden, sich planbarer verhalten, etc.) Das kommt Autisten dann im Alltag deutlich entgegen, weil auch viel weniger Missverständnisse entstehen. 
  • In Vorstellungsgesprächen ist es möglicherweise günstig, direkt zu sagen, weswegen man seinen Gesprächspartnern z. B. nicht in die Augen sieht und möglicherweise etwas unflüssiger spricht, weil man aufgeregt ist. In der Regel gilt fehlender Blickkontakt nämlich als unhöflich. Wenn der zukünftige Chef aber weiß, dass eine Störung dahinter steckt, kann er es viel besser einordnen und betrachtet es nicht als Minuspunkt. 
In den meisten Fällen überwiegen die Vorteile. Im Endeffekt muss es aber jeder Autist für sich selbst entscheiden, ob er eine Person über die Diagnose in Kenntnis setzen möchte. (Darum auch die Bitte an Eltern von noch relativ jungen autistischen Kindern/Jugendlichen: bindet sie in die Entscheidungsfindung mit ein! Sie müssen entscheiden, wer davon erfahren darf, immerhin ist das ein wirklich persönliches Thema!) Das kann man auch für jede Person einzeln entscheiden. Bei mir auf Arbeit wissen z. B. auch nicht alle von meiner Diagnose, das muss einfach nicht sein. Bei manchen Menschen ist es aber sehr sinnvoll und angenehm. Vielleicht helfen euch folgende abschließende Gedankenansätze bei der Entscheidungsfindung:
  • Es ist kein Muss! Auch beim Arbeitgeber nicht. Solange die Einschränkung sich nicht auf die Aufgaben auswirkt, die man machen muss, ist man mitnichten verpflichtet, die Diagnose offenzulegen. Das passiert auf rein freiwilliger Basis.
  • Autismus zu haben ist nichts, wofür man sich schämen müsste oder etwas schlimmes. Es ist einfach nur ein anderes Verarbeiten von Informationen und Reizen des Gehirns und die entsprechende Reaktion darauf. Wie Android/Ios.
  • Der Autismus wird nie verschwinden, früher oder später wird es also definitiv mal auffallen. Man wird ihn nicht auf Dauer verstecken können. (Was man auch nicht muss!)
  • Vielleicht sollte eine Absprache mit der Schule erfolgen, dass z. B. die Klasse nicht darüber informiert wird, sondern nur das Lehrpersonal über die Diagnose Bescheid weiß. Das muss aber der autistische Schüler gemeinsam mit den Eltern entscheiden, vielleicht ist es auch gerade gut, wenn die Mitschüler Bescheid wissen...
  • Der Psychologe der die Diagnose gestellt hat, hat in der Regel Informationsmaterial, welches man bei einem solchen Gespräch gleich mit zum lesen geben kann und kann ggf. sogar bei dem Gespräch dabei sein und unterstützen, oder zusätzliche Hinweise geben. 
  • Nehmt euch Zeit für das Gespräch und macht euch evtl. einen kleinen Stichpunktzettel, bereitet euch gut darauf vor. Man ist definitiv aufgeregt, und wenn man dann auch noch unter Zeitdruck steht, wird es definitiv nicht besser. Wichtig ist auch, dass ihr sicherstellt, dass ihr in dem Moment nicht gestört werdet.

Vertraut eurem Bauchgefühl (ja, auch Autisten haben das!), ihr werdet mitbekommen, ob ihr einer Person vertrauen könnt oder nicht und ob es sinnvoll wäre, sie davon in Kenntnis zu setzen. Und wenn ihr euch dafür entscheidet: Ganz viel Glück! Ihr kriegt das hin, ich hab es auch schon ein paar Mal gemacht. 😊 Chakka! 👍

Habt einen schönen Tag!
Anne

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