Autismus und Arztbesuche - Teil 2

Hallo ihr Lieben!

Vor einer sehr langen Weile habe ich bereits einmal ein Beitrag zu Autismus und Arztbesuchen geschrieben. In der letzten Autismusgruppe haben wir noch einmal über das Thema gesprochen und dabei sind so viele neue gute Tipps entstanden, dass ich sie total gern mit euch teilen möchte. Darum gibt es heute einen zweiten Teil zu diesem Thema. :)

Sprachliches Verständnis sichern

Wie ihr wisst, neigen autistische Menschen dazu Sprache wortwörtlich aufzufassen. Ein klassisches Beispiel aus dem Bereich Augenarzt. Ärztin / Arzt: "Können Sie die Zahlen auf der Tafel dort vorne lesen?" Autist: "Ja." Peinliche Stille, Augenarzt wartet, nichts passiert. Was ist passiert? Der Autist hat wahrheitsgemäß auf die ihm gestellte Frage geantwortet: Ja, er ist in der Lage, die Zahlen vom Sehtest zu erkennen. Klare Frage, klare Antwort. Was vom Augenarzt aber tatsächlich gemeint war: "Lesen Sie bitte mal vor, was Sie dort sehen!" Es handelt sich hierbei um eine versteckte Aufforderung, von der der Arzt gewöhnt ist, dass die Patienten verstehen, was er eigentlich damit ausdrücken will. Ihr müsst wissen: Ungefähr 1 % aller deutschen Menschen haben eine Autismus-Spektrums-Störung. Der Hauptanteil aller Patienten des Arztes wird also vermutlich eher neurotypische Menschen ausmachen. Patienten, die solche Aufforderung intuitiv verstehen. Der Mediziner spricht nicht absichtlich "chinesisch" - er ist es schlichtweg nicht gewohnt. Gleichzeitig vergessen Mediziner gelegentlich, dass die Menschen, die in ihre Praxis kommen, nicht unbedingt Erfahrungen mit der Untersuchung haben. Der Arzt weiß, was er meint wenn er sagt: "Legen Sie sich bitte schon mal auf die Liege und machen sie sich frei." Auf den Rücken? Auf den Bauch? Komplett ausziehen? Oder doch nur das T-Shirt? Für manche Menschen im Autismus-Spektrum ist die Aufforderung des Arztes viel zu unkonkret... All solche Dinge können zu Missverständnissen führen und sorgen dafür, dass der Autist noch verunsicherter ist, als das ohnehin aufgrund des Arztbesuchs der Fall ist. Es gibt aber eine gute Nachricht: mit ein paar kleinen Vorbereitungen lassen sich solche Probleme verhindern:

Typische Formulierungen aufschreiben

Die meisten Ärzte denken sich nicht ständig neue Formulierungen aus, die sie zu Patienten sagen, sondern nutzen klassische Phrasen, die sich in ihrem Alltag bewährt haben. Das kann man sich als autistischer Mensch zu Nutze machen, indem man sich diese typischen Sätze aufschreibt. Dann kann man sich von einer neurotypischen Vertrauensperson erklären lassen, was von einem erwartet wird und sich das dahinter schreiben. Je nach Umfang ist das dann wie ein kleines Arzt-Patient-Übersetzungsbuch und man kann in den entsprechenden Situationen immer nachschlagen und weiß besser was von einem erwartet wird.

"Nachdenken" (Situationsbezogene Schlussfolgerungen ziehen)

Ja, manche Aufforderungen sind nicht hundertprozentig eindeutig, aber sehr oft, lässt sich aus den Situationen logisch schlussfolgern, was gemeint / verlangt wird. Ein Beispiel: Wenn man mit Husten und Atemproblemen zum Hausarzt geht und er meint: "Setzen sie sich schon mal auf die Liege und machen sich frei!", dann ist in 99 % aller Fälle nicht gemeint, dass man sich komplett nackt ausziehen soll, sondern eben den Oberkörper, damit man abgehört werden kann. Wenn dann immer noch unklar ist, was gemeint ist, kann man logischerweise auch immer noch nachfragen. Oder wenn man beim Zahnarzt ist und er fragt: "Wie oft hatten Sie in der letzten Woche Schmerzen?" Für welche Schmerzen wird er sich da interessieren? Sicher nicht für die Knieschmerzen von letzter Woche Donnerstag... Was ich damit sagen will: ja, Autist: innen haben Probleme damit, wenn Fragen zu unkonkret gestellt werden und hängen dann an der Frage fest, aber mitunter lassen sich Unklarheiten auch ganz einfach selbst beantworten. 

Gute Vorbereitung auf Arztbesuche

 Standard-Fragebogen mitnehmen und abarbeiten

Auch einige Neurotypen kennen das Problem: beim Arzt ist man mitunter nervös und es fällt einem schwer, sich an alles erinnern, was man den Mediziner fragen wollte und dann urplötzlich ist man zu Hause und denkt sich: "Ach verdammt, das hättest du noch fragen müssen!" Hier kann man Abhilfe schaffen, in dem man erst einmal schaut: was sind Fragen, die ich immer beantwortet haben muss, damit ich nach dem Arztbesuch einen klaren "Fahrplan" habe? Das können zum Beispiel: 

- Fragen zum Arztbesuch an sich
  • Wie lange wird die Untersuchung dauern?
  • Was werden sie konkret machen?
- Verordneten Medikamenten
  • Muss ich auf bestimmte Lebensmittel verzichten?
  • Welche Nebenwirkungen habe ich zu erwarten?
  • Wie lange muss ich die Medikamente nehmen?
- Verhalten während der Krankheit
  • Bin ich ansteckend?
  • Darf ich Sport machen?
Ich persönlich habe mich noch nie mit dem Sammeln von klassischen Fragen beim Arztbesuch beschäftigt, darum habe ich jetzt hier nur einzelne Beispiele für euch. Aber ihr könnt euch ja auch Hilfe von Freunden / Bezugspersonen dazu holen. Das Gute an der Fragebogenmethode ist: auch nichtsprechende Autisten können auf diese Weise relativ sicher an die Informationen kommen, die sie haben möchten. Sie müssen ja einfach nur den Fragebogen hinhalten. 

Offen über Autismus sprechen

Ihr dürft nie vergessen: es schwebt keine Leuchtreklame über eurem Kopf: "Ich bin Autist!" Den meisten Menschen sieht man ihren Autismus nicht an. Und gerade wenn ihr neu in einer Arztpraxis seid oder neue Mitarbeiter angefangen haben, können sie nicht ahnen, dass ihr autistisch seid. Noch dazu kommt, dass auch Autisten nicht alle dieselben Bedürfnisse haben. Damit die Praxismitarbeiter also adäquat auf eure Bedürfnisse eingehen können, müsst ihr offen kommunizieren, dass ihr autistisch seid und was ihr konkret braucht, um die Situation so gut wie möglich aushalten zu können. Nicht jeder spricht gern offen darüber, dass er Autismus hat, das verstehe ich. Aber: Arztbesuche sind im Allgemeinen schon unangenehm genug. Und man ist ja in der Regel nicht da, weil man sich nett die Zeit vertreiben möchte, sondern weil man irgendwelche gesundheitlichen Probleme hat. Es geht einem also meist ohnehin nicht so gut. Niemanden ist geholfen, wenn ihr erfolgreich euren Autismus versteckt, um ja nicht aufzufallen und dann eskaliert die Lage, weil ihr eine Reizüberflutung mit anschließendem Meltdown bekommt, weil im Wartezimmer ein schreiendes Kind war und die Ärztin euch einmal zu häufig berührt hat... So schnell wird es nicht eskalieren, aber ich denke, ihr wisst, worauf ich hinaus will. 

Bezugsperson zur Unterstützung mitnehmen

Viele gehörlose Menschen nehmen zu wichtigen Terminen entweder Gebärdendolmetscher mit, oder hörende Freunde bzw. Familienangehörige, die gleichzeitig Gebärdensprache können und somit zwischen dem hörenden Arzt und der gehörlosen Person übersetzen kann. Auch für Autisten kann eine Unterstützungsperson sinnvoll sein:
  • sie kann die Kommunikation mit dem Arzt / dem Praxispersonal übernehmen, was eine ziemliche Entlastung sein kann, wenn der Autist ohnehin schon angespannt ist, und in Stresssituationen ggf. Probleme mit dem sprechen hat
  • zwei Köpfe merken sich mehr als einer - sie kann sich z. B. wichtige Informationen zu Medikamenten zusätzlich merken oder an wichtige Fragen erinnern, die vielleicht noch nicht gestellt worden sind
  • es gibt Sicherheit, wenn man jemand dabei hat, der einen genau kennt und weiß, worauf er achten muss
  • die Person kann bei der Selbstregulation unterstützen, indem sie den Autist zum Beispiel darauf hinweist, dass er / sie gerade gestresst wirkt und vorschlägt, zum Beispiel kurz gemeinsam die Praxis zu verlassen oder z. B. das Kauspielzeug zur Beruhigung zu nutzen

Nicht jeder braucht dieselbe Unterstützung. Ihr dürft entscheiden, wann die Unterstützungsperson eingreift und wann sie nur als passiver Beobachter dabei ist. Sprecht einfach im Vorfeld ab, was ihr benötigt. 


Standart-Absprachen mit Arztpraxen vereinbaren

Es kann sehr anstrengend sein, wenn man jedes Mal aufs neue erklären muss, was man braucht und was wichtig ist, damit man die Situation Arztbesuch so entspannt wie möglich durchleben kann. Daher kann es hilfreich sein, wenn in der Praxis Aktennotizen vorhanden sind und jeder Mitarbeiter direkt weiß, worauf zu achten ist. Dann muss man nicht jedes Mal dasselbe aushandeln und ggf. das Risiko eingehen, dass es nicht funktioniert. Ich habe wirklich gute Erfahrungen damit gemacht. Beim Zahnarzt ist es allgemein bekannt, dass IMMER eine ganz bestimmte Zahnmedizinische Fachangestellte dabei sein muss. Wir sagen immer gleich bei der Vereinbarung für den nächsten Termin: "Bitte bei S!" Meine Mutter unterstützt mich darin. Sie versichert mir immer: "Wenn S nicht da ist, fahren wir halt wieder ab!" und sie sagt auch bei der Terminvergabe immer Bescheid, wenn sie mal selbst die Termine organisiert. Das führt dazu, dass ich eigentlich völlig tiefenentspannt zu den Terminen gehen kann, weil ich keinen Stress haben muss, ob sie auch WIRKLICH da ist und für mich eingeteilt wird. Was können das sonst für Absprachen sein?
  • dass man sich nur kurz in der Praxis anmeldet, dann diese verlässt und eine SMS bekommt, wenn es losgeht
  • dass wann immer möglich Randtermine (zu Beginn/Ende der Sprechzeit) vergeben werden, damit möglichst wenig andere Leute in der Praxis sind, die einen stressen könnten 
  • dass immer ein- und dieselben Praxismitarbeiter mit dem Autisten arbeiten (das kann tatsächlich sehr sinnvoll sein, weil die bereits wissen, worauf sie achten müssen)
  • keine Anrufe zur Kontaktaufnahme  von Seiten der Arztpraxis, sondern nur Emailverkehr
  • Zuteilung zu bestimmten Wartebereich, der ggf. etwas ruhiger ist und weniger überlaufen
Ihr wisst am Besten, was ihr benötigt. Ich gehe jetzt nur davon aus, was mir spontan einfällt, was angenehm sein könnte. Meist handelt es sich wirklich nur um Kleinigkeiten, die aber die ganze Situation erheblich erleichtern können. 

Welche Tipps fallen euch noch ein, die weder im ersten, noch in diesem Beitrag genannt wurden? Schreibt es gern in die Kommentare!

Habt einen schönen Tag!
Anne

Kommentare