Von "chinesisch" sprechenden Neurotypen und ratlosen Autisten

Guten Tag,

ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, dass jeder Angehörige/Freund/Bekannter/Betreuer, etc. eines Autisten schon folgende Situation erlebt hat: Der Autist soll etwas bestimmtes machen, bekommt die mündliche Handlungsanweisung des Gegenübers und nichts passiert oder der Autist macht es ganz anders, als es das Gegenüber gefordert hat. Je nachdem ob man es schnell genug aufklären kann, sind irgendwann höchstwahrscheinlich beide Parteien genervt. Der Neurotyp weil der autistische Mensch einfach nicht kapiert, was gemacht werden soll und der autistische Mensch, weil er frustriert ist (aus seiner Sicht macht er genau das, was der Neurotyp ihm aufgetragen hat und versteht nicht, wieso er es angeblich falsch macht). Theoretisch sprechen beide Parteien dieselbe Landessprache und es liegt bei keinem von beidem eine Intelligenzminderung vor und trotzdem verstehen sie sich einfach nicht. Auch ich, als Autistin, habe solche Situationen schon mehr als genug erlebt. Das Gute ist: meiner Meinung nach kann man solche Missverständnisse sehr gut aus dem Weg räumen, wenn der Nichtautist verstehen würde, wie er es uns erklären muss, damit wir es verstehen. Darum versuche ich heute mal Hilfestellung zu leisten. :-)

1) Nicht nebenbei erklären!

Ganz heißer Tipp: egal was ihr erklären wollt bzw. was der Autist machen soll - wenn er gerade beschäftigt ist - ruft ihm nicht irgendeine Arbeitsanweisung zu. Menschen mit einer Autismus-Spektrums-Störung haben extreme Schwierigkeiten Reize zu filtern und wichtige von unwichtigen Dingen zu trennen. Es besteht das große Risiko, dass er euch nur mit halben Ohr zuhört, weil gerade noch irgendein anderer Arbeitsgang in seinem Kopf ist und er ihn in dem Moment nicht ignorieren kann. Unsere Hauptsachbearbeiterin bei meinem früheren Arbeitgeber hat das immer mega gut gemacht - sie hat gewartet, bis ich meinen Gedankengang in die Tat umgesetzt habe, bzw. aufgeschrieben habe was ich als nächstes tun will - dann hat sie mir erst gesagt, was ich tun soll. Wenn es mehrere kleine Arbeitsschritte waren, hat sie mir diese aufgeschrieben und wenn es komplizierter war, an einem Beispiel vorgemacht. Ich fand vor allem die kleinen Notizen super, weil ich dann bei Bedarf noch mal nachschauen konnte, ohne dass ich irgendwie noch mal nachfragen musste. Ich bin nicht schwer von Begriff, wirklich nicht, aber gerade wenn mehrere Informationen hintereinander an mich herangetragen werden, kann es durchaus passieren, dass ich sie nicht schnell genug verarbeiten und speichern kann. Darum kann es auch notwendig sein, dass die Schritte mehrfach wiederholt werden - das kommt ganz darauf an, wie reizintensiv die Umwelt gerade ist. Wenn nebenbei verschiedene Geräusche zu hören sind, müsst ihr damit rechnen, dass wir euch nicht hundertprozentig folgen konnten, weil etwas anderes abgelenkt hat. 

2) Nicht unbedingt vormachen, sondern selber machen lassen und dabei Anweisungen geben.

Menschen mit Autismus-Spektrums-Störung sind häufig unfassbar schlecht darin, etwas nachzuahmen, dass das Gegenüber vormacht. Das liegt daran, dass unsere Spiegelneuronen schwächer ausgebildet sind (darum können wir uns auch nicht so gut in andere Menschen hineinversetzen). Wir können zwar grundsätzlich nachvollziehen was ihr da tut, aber das dann genauso zu machen wie ihr - das geht meistens nicht. Ich weiß nicht wie ich das beschreiben soll, aber ich kann das was ich sehe, schlecht auf meine eigenen Bewegungen übertragen. Das Problem ist mir schon häufiger aufgefallen, wenn ich beim Eishockey geholfen habe - z. B. beim Vorbereiten der Eishalle auf die neue Saison oder beim erstellen von Choreos (meistens halten die Fans bestimmte Schriftbänder in die Höhe während des Spiels). Mir wurde vorgemacht was ich tun soll, diejenigen die es mir vorgemacht haben, waren auch wirklich sehr geduldig und lieb, aber ich hab trotzdem nicht gecheckt was ich machen soll. Meistens sind sie dann auf die Idee gekommen, dass sie mir dann kleinschrittige Anweisungen gegeben haben, ich habe sie versucht umzusetzen und sie haben ihre Anweisungen je nach Bedarf direkt in dem Moment konkretisiert und mit angefasst und noch mal korrigiert. Danach haben sie sich ein bisschen entfernt und haben die ersten Durchgänge immer noch mal verbal begleitet - danach hat es aber hervorragend funktioniert, auch ohne Unterstützung. Ich musste nur erst mal verstehen, was von mir verlangt worden ist. 

3) Aufgaben vereinfachen

Auch dieses Beispiel ist aus dem Eishockey. Ich sollte irgendwelche Verankerungen in die Holzbretter stecken (Tribünenaufbau) und dann mit dem Hammer drauf schlagen, damit sie sich schließen und das ganze sicher ist. Trotz intensiver Bemühungen der lieben Person, die mir die Aufgabe übertragen hat, mir die richtige Haltung der Verankerung zu zeigen - also wie ich sie reinstecken soll - ich konnte es nicht umsetzen. Es war einfach ultra schwer, die mündliche Anweisung mir so vorzustellen. Um Frust für alle Beteiligten zu vermeiden, sind wir dann überein gekommen, dass er die Verankerungen schon reinsteckt - so wie sie reingehören und ich sie nur noch festschlage. So konnte ich die Aufgabe trotz des Verständigungsproblems erledigen und ihm im Endeffekt Arbeit abnehmen. Denn es macht ja schon einen Unterschied, ob man die Verankerungen nur reinstecken muss, oder ob man sie reinstecken und dann noch festschlagen muss. Er hat quasi den Teil, den ich nicht kapiert habe, selbst übernommen und hat mir den anderen Teil überlassen. Wenn man merkt, dass es einfach nicht verständlich ist. ist es manchmal einfach besser, wenn man von weiteren Erklärungsversuchen absieht. 

4) Weniger ist mehr. 

Es bringt manchmal nicht so viel, wenn wir lange und umfangreiche Arbeitsanweisungen erhalten. Die Chance, dass wir das tun, was ihr wirklich wollt ist am höchsten, wenn ihr uns nur das wichtigste sagt. "Sortiere die Unterlagen alphabetisch." Klare Anweisung, wird voraussichtlich korrekt umgesetzt. Wenn es sortiert ist und anschließend noch etwas damit gemacht werden muss, kann man dann die nächste Anweisung geben. "Kopiere sie je 3x - doppelseitig." Wenn das gemacht wurde, kann man dann sagen, an wen sie verschickt werden sollen bzw. wie damit weiterverfahren werden soll. Gut, das Beispiel ist jetzt vielleicht nicht so der Bringer, weil es so eine einfache Arbeitsanweisung ist, dass sie meistens auch korrekt umgesetzt werden würde, wenn man sie gesammelt an den Autisten heranträgt, aber es gibt ja durchaus auch Handlungen die deutlich komplexer sind. Und hier ist es eben praktisch, wenn so wenig ablenkende Nebeninformationen gegeben werden und sie erst herangetragen werden, wenn der vorherige Teilschritt erfolgreich erfolgt ist. 

5) Bewahrt die Geduld.

Auch wenn es euch wahnsinnig machen kann, wenn ihr es schon zum hundertsten Mal versucht habt zu erklären und wir kapieren es immer noch nicht: wir wollen euch nicht damit provozieren. Wir denken tatsächlich, dass wir genau das machen, was ihr uns sagt, und können gar nicht nachvollziehen, warum ihr so verärgert seid. Ihr sprecht in dem Moment irgendwie chinesisch. Wir können es wegen der schlecht ausgebildeten Spiegelneuronen nicht adäquat nachmachen (auch wenn wir noch so aufmerksam zuschauen) und können uns z. T. nicht vorstellen, wie ihr etwas meint. Wenn ihr merkt, dass irgendwie gar nichts bei uns ankommt - probiert doch mal einen der Tipps 2 - 4 aus, vielleicht ist das dann der Schlüssel zum Erfolg. 

Was aber ganz wichtig ist: wir wollen grundsätzlich helfen und unterstützen und trotz der Verständnisbarrieren die teilweise auftreten, könnt ihr uns bedenkenlos etliche Aufgaben übertragen. Ihr müsst nur schauen, dass ihr sie so formuliert, dass wir sie auch missverständnisfrei verstehen und umsetzen können. Dafür kann ein bisschen Kreativität von Nöten sein, aber glaubt mir - es lohnt sich, wir können euch einiges an Aufgaben abnehmen.

Viel Erfolg beim ausprobieren der Tipps. Habt einen schönen Tag.
Anne

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